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Kunst kommt von Keimen

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Das Geheimnisvollste am so geheimnisvollen Leben sind die Keime. Von ihnen wissen wir viel, was sie etwa enthalten und wie sie sich entwickeln, aber nicht genug, um ihr Entstehen zu begreifen. Soviel nur ist gewiß, daß sie die Pforten des Lebens sind. Was leben wird, durchschreitet sie. Dieses Gesetz gilt auch im Geistigen und vor allem in der Kunst. Kunst kommt von Keimen. Sie käme sonst aus dem Nichts.

Was Keime sind, läßt sich für Kunst, im weiteren Sinne verstanden, am Beispiel dieses Versuches über Keime zeigen. Auch er ist aus einem Keim — eben aus dem dieses Begriffes — entstanden und soll sich nun hier, wie das Blatt aus der Knospe, aus ihm entwickeln. Auch aus der genauen Kenntnis sämtlicher unmittelbar vor dem „Einfallen“ dieses Keimes den Kopf erfüllenden Gedanken ließe sich seine Herkunft nicht wirklich erklären. Die Unmöglichkeilt, das Entstehen eines Einfalls zu begreifen, wird durch einen Vergleich mit seinem polaren Gegensatz, nämlich dem Einschlafen, verständlich. In beiden Fällen verhindert eine Art Unschärferelation die Beobachtung der Vorgänge. Der hierzu erforderlichen Konzentration des Bewußtseins steht die jede Bewußtseinsteilung ausschließende Konzentration beim „Einfallen“ ebenso entgegen Wie die notwendig vollkommene Dekonzentration beim Einschlafen.

Mag immerhin der äußere Anstoß durch ein Erlebnis als Ursache eines Einfalls nachgewiesen werden: an dessen Geheimnis wird dadurch so wenig gerührt wie an das des Vogels durch das Wissen um seine Herkunft aus dem Ei. Es ist auch nicht jeder Einfall ein Keim, nicht jeder Kraftzentrum und unverwechselbar. Nur Keime haben Monadencharakter und werden dem Bewußtsein intuitiv, nicht konstruktiv gegeben, werden erschaut, -nicht erbaut, Unverwechselbar sind sie, denn kein ihnen scheinbar synonymer Begriff kann sie ersetzen. Wenn der Einfall zu diesem Text darin bestand, daß sich dem aus mancherlei Gedanken gewirkten Denken der Begriff „Keim“ als ein zur Bündelung dieser Gedanken fähiger Begriff anbot, so war diesem damit auch schon eine Bestimmung mitgegeben, die ihm seitdem allein zukommt. Keim ist nicht nur ein anderes Wort für Einfall, für Idee oder Plan. Es tut nichts zur Sache, daß ein Begriff „Keim“ mit anderen Bestimmungen bereits existiert. Die Tatsache, daß er dem Denken, wie ein künstlerischer Einfall, als Ausfluß einer Bewußtseinslage, aufgegeben wurde, gibt diesem Denken das Recht, ihn als neuen Begriff gegen jeden anderen abzugrenzen. So nahm Goethe die „Mütter“ als neuen Begriff in die Sprache herein, obwohl dieses Wort bereits einem anderen Begriff als Ausdruck diente. Nicht ein neues, sondern das rechte Wort zu finden, kann wortschöpferisch sein nur bedeuten.

So ist unter „Keim“ eben hier ein Einfall zu verstehen, der mit der Erkenntnis seiner Keimfähigkeit oder Entwicklungsfähigkeit zugleich auftritt. Das Problem, den neuen Begriff auch andere als mit ihrem Denken übereinstimmend erkennen zu lassen, ist das Problem der Kunst überhaupt. Immer wird es dadurch gelöst, daß die Kunst die vorausgeahnte Keimfähigkeit des Begriffes beweist.

Das Material des Künstlers ist keine chaotisch-amorphe Masse, noch hat er es mit bloßen atomaren, also toten Bausteinen zu tun, die, unfähig zu eigener Entfaltung, von ihm nur einfach zusammengesetzt werden, sondern er arbeitet mit Keimen. Aus ihnen entwickelt sich das in ihnen erahnte Kunstwerk durch Entelechie, falls der Künstler, wie eine Pflanze in seiner ontogenetischen Entwicklung gleichsam nicht abgeschlossen, an den Vegetationspunkten seines Geistes aus den „eingefallenen“ Keimen immer neue Triebe — eben die Kunstwerke — zu treiben vermag.

An Dostojewskij wird von Kennern seines Werkes besonders die Sparsamkeit gerühmt, mit der er seine Einfälle verwertete und immer wieder verwendete. Wie hätte dieser „ungeheure Dichter“ und totale Künstler auch verschleudern sollen, was ihm eingefallen war, lauter keimfähiges Material, anstatt es in wechselndem Erdreich immer wieder keimen und wachsen zu lassen?

Als berühmtes Beispiel für die Entwicklung und den wiederholten Gebrauch eines Keimes in der Literatur kann der Tod des Fürsten Andrej in Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“ gelten. Der Keim dazu war dem Dichter während des Krimkrieges eingefallen und verdankt sein Entstehen zweifellos einem Erlebnis: Eine gezündete Granate dreht sich durch den Gasausstoß im Kreise vor den Augen des Kriegers und wird dessen letztes irdisches Erlebnis, bevor sie ihn tödlich verwundet. In den erzählerisch gestalteten Kriegsberichten aus Sewastopol zum erstenmal zur Keimung gebracht, erwies sich die Keimfähigkeit dieses Bildes der gleichsam lebendigen Granate zehn Jahre später noch immer groß genug, um abermals, und diesmal in den Boden de großen Romans, versenkt zu werden und hier die monumentale Blüte des Andrejschen Sterbens zu treiben.

Man stelle sich einmal Picassos Werk als nicht aus Keimen, sondern durch bloßes Konstruieren entstanden vor. Das so gedachte Riesenoeuvre wäre dann tatsächlich so absurd, wie es jenen erscheint, die darin nichts von jenen Keimen verspüren, aus denen es in Wahrheit sein immer noch wachsendes Leben bezieht, grandios ■beweisend, daß Kunst von Keimen komm*.

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