6760640-1968_14_09.jpg
Digital In Arbeit

ANDRE MALRAUX IM SPIEGEL SEINER ANTIMEMOIREN

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht, daß es um Malraux still geworden wäre. Malraux’ Arbeit und Leistungen als Kulturminister Frankreichs sind bewundernswert und sogar maß- und beispielgebend. Die letzterbaute, in Grenoble vor kurzem eröffnete „Maison de la Culture“ legt davon beredtes Zeugnis ab: denn dieses Haus, das im Dienste der Volkskultur steht, ist ein Meisterwerk der zeitgenössischen, funktionellen Architektur. Der Schriftsteller Malraux aber hat lange Jahre den Anschein erweckt, keine schöpferische Kraft mehr zu besitzen: mit 1943 hatte er aufgehört, Romane zu schreiben. Und hatte er sich schon von 1947 bis 1957 als Kunstphilosoph einen internationalen Namen gemacht und sogar, zum Ärger der Kunsthistoriker von Beruf, ungeahnte Wege der vergleichenden Kunstgeschichte aufgespürt und begangen, erweckte er ab 1958 den Eindruck, sich nur noch als Politiker zu betätigen und jede schriftstellerische Arbeit aufzugeben. Malraux hat aber plötzlich das Schweigen gebrochen und Ende 1967 den ersten Band seiner Erinnerungen, unter den Fanfarenklängen der publizistischen Reklame, veröffentlicht. Der Titel selbst jener nun in mehreren Sprachen vorliegenden „Antimėmoires“ war attraktiv und herausfordernd. Er ist aber mehr als nur ein Trick der allmächtigen und geschickten Werbeabteilung des Verlages Gallimard: er entspricht genau dem Inhalt des Buches, definiert sein Vorhaben, weist seine Tragweite auf und zeichnet gleichzeitig seine Grenzen ab. ,

Malraux’ schicksalhafte Begegnungen mit drei berühmten Persönlichkeiten der modernen bzw. zeitgenössischen Geschichte — Nehru, Mao Tse Tung und Charles de Gaulle —, und die politisch-humanistischen Auseinandersetzungen, die er daran knüpft, werden uns hier nicht beschäftigen. Nicht, daß sie für eine richtige Deutung des Menschen und des Denkers Malraux keine Bedeutung besäßen, denn Malraux bleibt immer, in seinem Leben wie in seinen Romanen oder seinen Essays über die Geschichte der Kunst, auf der Suche nach dem exemplarischen menschlichen Helden, nach dem idealen Prototyp seiner humanistischen Träume, der ebenso Apollo wie -Dionysos, Prometheus wie Sisyphos, Zarathustra wie den Claudelschen „Goldhaupt“ zu verkörpern trachtet. Erst die kommenden Generationen werden aber die endgültige Bedeutung der politischen Konstellation, die er in seinen „Antimemoires“ inszenierte; und die Problematik der Situationen, in die er sie zurüickverpflanzt, richtig ermessen können.

Tiefer verwurzelt in Malraux’ Psyche scheint uns vielleicht heute wie ehedem der Dichter, der Denker und der Ästhet zu sein: in dieser Hinsicht bilden die „Antimėmoires“ zwar eine sehr interessante Bekräftigung des früheren Malrauxschen Oeuvre. Sie fügen ihr jedoch schließlich keine wirklich neue, zukunftweisende Note hinzu, die fähig wäre, auf Malreux’ geistigem Weg einen Wendepunkt aufzuzeigen. Dieser erste Band enthält freilich zahlreiche Anspielungen auf die bekannten Romane der dreißiger Jahre. Mehr noch: Malraux weiß sehr geschickt, zu geschickt vielleicht für den Leser, der die Handlung und den Sinn dieser Romane nicht mehr genau im Kopf hat, das Leben und die Situationen seiner erdichteten Figuren mit seinen eigen Erlebnissen im Femen Osten oder im Spanien des Bürgerkrieges rückblendend zu verweben. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß er manche Seiten der allerersten, provisorischen Fassung seiner Romane nun unauffällig in den Verlauf seiner persönlichen Erinnerungen einblendet. Daß Malraux die Thematik und sozusagen den menschlichen Stoff seiner erzählerischen Werke aus seinem eigenen Leben und aus dem Schicksal der Menschen geschöpft hat, mit denen er in Ajsien oder in Europa im Laufe seiner revolutionären Tätigkeit zusammengearbeitet hatte, wußte man bereits zur Genüge. Malraux’ „Antimėmoires“ bekräftigen jedenfalls diese Tatsache, geben über biographische oder historische Einzelheiten interessante Details, machen den ganzen geschichtlichen, soziologischen und menschlichen Hintergrund wieder lebendig. Um so besser gewiß für den Durchschnittsleser; um so schlimmer aber für den Stilistiker und den Literarhistoriker, denen Malraux’ Angaben und manchmal unscharfe Ein- und Ausblendungen viel zu schaffen machen werden.

Über die Fortsetzung und Vollendung des letzten, 1943 als Torso erschienenen Romans „Unter den Nußbäumen auf der Altenburg“, der nur den Anfang von einem Romanzyklus „La lutte avec l’Ange“ bildete, hätte man gerne authentische Auskünfte erhalten. Malraux bleibt dies aber den Wünschen und der legitimen Neugierde seiner Leser schuldig: wohl gibt er gelegentlich und nur sehr diskret ein paar biographische Daten über seine Familie bekannt. Dazu fügt er einen dramatischen Bericht über seine Teilnahme an der Resistance, seine Festnahme in Toulouse und das Todesurteil, das buchstäblich im letzten Augenblick nicht voll streckt wird. Uber Sinn und endgültigen Inhalt dieses eher philosophischen denn erzählerischen Werkes wird eigentlich nichts ausgesagt. Diese Tatsache könnte als bedauerlich registriert werden, gäbe sie uns nicht, an und für sich, über den geistigen Standort Malraux’ schon hinlänglich Bescheid, der bereits 1942 43 fixiert war und dem weder die 25 folgenden Jahre noch die eigenwillige, tiefschürfende Meditation des Denkers über die Geschichte und Philosophie der Kunst haben Wesentliches hinzufügen können. Hier stehen wir nämlich — um den Titel von Bemanos brasilianischem Buch zu verwenden — „am Kreuzweg der Seelen": und die einzigen Seiten der „Antimėmoires“‘, die uns über Malraux’ späteren seelischen Werdegang informieren könnten, übermitteln kein direkt persönliches Erlebnis des Autors, sondern sie spiegeln nur die verschiedenen, manchmal divergierenden und entgegengesetzten Erfahrungen von französischen KZlern wider. Immerhin ist der wiedergegebene Dialog sehr aufschlußreich: denn er konzentriert sich — oder Malraux selbst hat ihn darauf zusammengedrängt — auf die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Problem, das dem ganzen existentialistischen Denken zugrunde liegt: mit dem skandalösen Rätsel des Bösen, mit der damit untrennbar verbundenen Problematik der Conditio humana, mit dem Sinn oder mit der Absurdität des menschlichen, irdischen Schicksals.

Denn ein Feldkaplan der Resistance-Einheiten im Vercors mag wohl an Malraux, der ihm die ganze Problematik der göttlichen Vorsehung an Hand von Dostojewskijs „Brüder Karamasow“ vorgehalten hatte, bereits 1943 geantwortet haben: „Dostojewskij das ist ausgezeichnet! Das ist aber das ewige Problem des Bösen. Für mich ist das Böse jedoch kein Problem, sondern ein Mysterium" (o. c. 570 71): Malraux hat nie aufgehört, nach der Sinnhaftigkeit einer Welt und einer Menschheit zu suchen, die, wie in Jean-Paul Richters berühmtem, für Nerval, Baudelaire, Hugo, Balzac und nicht zuletzt Claudel faszinierenden Alptraum aus „Siebenkäs“, das „fürchterliche Vakuum“ erleben, das „der Tod Gottes“ diesseits und jenseits des menschlichen Todes gähnen läßt und, daß für das Vorhandensein des Bösen in der Welt keine Erklärung, keine Rechtfertigung bieten kann. Denn hat „Dostojewsklj das Problem des Bösen nicht erfunden“, so hat er es doch „am aufwühlendsten zum Ausdruck gebracht“ und Dostojewskijs Angst ist „die Angst selbst unseres ganzen Zeitalters“ (o. c. 573).

Malraux spricht darauf mit ein paar Überlebenden aus Dachau, Ravensbrück, TrebHnka: es sind dies unter anderem eine Elsässerin, ein Dominikanerpater, Edmont Michelet, und ein Berufsoffizier. Die einen sind Christen, die anderen Ungläubige: es kommt aber nicht auf das religiöse Bekenntnis an. Es geht um den Menschen schlechthin, der in allen KZlern, Männern oder Frauen, Juden oder Ariern, Christen oder Atheisten systematisch degradiert, verhöhnt, „ver- bestralisiert“1 wurde, denen der höllisch-apokalyptische Apparat viel mehr als das Leben, die Seele selbst entreißen wollte, da er sie in die Selbstentfremdung, in die seelische Verdammnis zu treiben trachtete. Malraux, dessen Brüder im KZ gestorben sind, beabsichtigt gar nicht, die einschlägige Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit mit melodramatischen Seiten zu bereichern, grauenhafte Erinnerungen geschickt zu inszenieren. Sein Ton ist der eines Berichterstatters, der, selbst wie einst Dostojewsklj, mit dem Tode sadistisch konfrontiert, nichts nachträglich billig dramati siert; und die Bemerkungen der ehemaligen Inhaftierten klingen — paradox und tief menschlich zugleich — fast gelassen, manchmal mit schwarzem Humor gewürzt. Sie alle haben dieses Jahr Null ihrer Existenz überwunden, zu sich selbst, zu ihrem geistigen Standort in der Familie, in der Gesellschaft zurückgefunden. Die Seele hat gesiegt.

Und wiederum stößt Malraux dabei auf die ständig auf ihm lastende existentielle Frage, die er einem Helden aus der „Conditio humana“ bereits 1932 auf die Lippen legte: „Was kann man aus einer Seele machen, da es weder Gott noch Christus gibt?“ Ein radikaler Atheist, hat Malraux nie aufgehört, an das Vorhandensein und an die alles beherr schende Präsenz einer Seele im Menschen zu glauben. Dieses, sein Bekenntnis, wiederholt er in den letzten Seiten seiner „Antimėsmoires“: „Der Wille zum Leben ist nicht einfach ein animalischer Trieb, sondern ein konfuses sakrales Streben. Das Rätsel der Conditio humana offenbart sich hier viel klarer sogar als in der Welle des kosmischen Todes, der früher oder später Schergen und Opfer gleichweis hinwegfegen wird. Die Conditio humana, es ist dies die Conditio des Geschöpfseins, die das Schicksal dem Individuum auferlegt, genauso wie die Todeskrankheit das Schicksal des Individuums besiegelt. Diese Conditio humana zu vernichten, heißt das Leben vernichten: töten. Die Vernichtungslager haben versucht, aus dem Menschen ein rein tierisches Wesen zu machen. Dadurch aber haben sie erwiesen, daß der Mensch nicht ausschließlich durch das leibliche Leben zum Menschen wird." (o. c. 587.)

Und der Alltag im KZ selbst hat das bestätigt: Abgründe der Grausamkeit und der Unmenschlichkeit haben äußerstes Heldentum, völlige Selbstlosigkeit und Aufopferung nicht ersticken können. Es ist dies eben für Malraux ein einziges Rätsel: „Für einen Gläubigen stellen die Vernichtungslager, genauso wie die Peinigung eines einzigen unschuldigen Kindes durch einen Rohling, das höchste Rätsel dar; für einen Agnostiker bricht dasselbe höchste Rätsel aus dem einfachsten Akt des Mitleids, des Heldentums oder der Liebe hervor." (o. c. 596.)

Heute wie früher also sieht sich Mialraux mit dem unlösbaren Rätsel der Conditio humana konfrontiert. Für religiöse Bekenntnisse empfindet er denselben verständisvollen Respekt, den ihm die Schöpfungen der sakralen Kunst der buddhistischen, chinesischen oder aztekiischen Kulturen abnötigen. Am Schluß seines spanischen Romans „Die Hoffnung“ ließ er einen heldenhaften Linksrevolutionär dem aufrichtigen religiösen Bekenntnis eines seiner christlichen Mitkämpfer echte Bewunderung zollen. Draußen, vor dem Tor der Kathedrale der Hoffnung, steht Malraux weiterhin aufrecht, unverändert, in bestimmter ästhetisch-seelischer Entfernung, und man kann sich schwer verstellen, daß diese rätselhafte Seele eines Tages das Echo der tragdsch-frohen Heilsbotschaft vernehmen könnte. „Wenn der Tod für ihn kein Ausigang zu Gott ist“, sagt der Dominikaner der „Antimėmoires“, „ist es wahrscheinlich besser, einem Sterbenden nichts zu sagen. Ich glaube aber, daß es immer einen Platz für die Liebe gibt. Nicht jeder kann ein Atheist sein, auch wenn er es will.” (o. c. 603.) Malraux gibt diese Worte Wieder, und es ist anzunehmen, daß er sie gutheißt Denn sie entspringen einer subjektiv aufrichtigen Überzeugung. Seine, Malraux’ Überzeugung, ist aber eine andere, und die allerletzten Seiten der „Antimėmoires“ klingen eher melancholisch, tragisch und skeptisch zugleich. „Wie im Jahre 1965 vor Christus in den Städten Ägyptens und Mesopotamiens pilgert heute die Pariser Menge langsam am Pantheon, gleichsam am Himmel des Todes vorbei Weder von der Hölle noch vom Tod kommt man zurück.“ (o. c. 604.) „Was der Mensch hinterläßt, das sind gelegentlich jene Wandzeichnungen von Lascaux aus der Hand unserer Vorfahren vor fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahren, die die zeitgenössische Wissenschaft vielleicht der totalen Vernichtung entreißen wird.“ (o. c. 604.) Der Mensch, ein ewiges Rätsel und ein Wunder. Ein Mysterium ist er für Malraux jedenfalls nicht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung