Aufbrüche im Tal und auf der Höhʼ

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Man kommt gar nicht so einfach wieder heraus, aus dem Rauriser Tal, ohne Auto. Busse fahren sonntags spärlich und so ist man auf die Hilfe anderer angewiesen, auf Mitfahrgelegenheit. Dasselbe gilt fürs Ankommen. Bis nach Taxenbach geht's mit der Bahn. Dann hat man so eine Art kleinen Berg zwischen sich und Rauris. Bekommt man aber Hilfe, ist leicht gut ankommen.

Dann zeigt sich das Rauriser Tal von atemberaubender Schönheit, vor allem wenn das Wetter mitspielt. Zwar sind die Bäume Ende März hier noch kahl, aber die weißen Gipfel, vor allem der mächtige Sonnblick am Ende des Tals, heben sich derart vom blauen Frühlingshimmel ab, dass man wieder einmal versucht ist, über die Natur zu sagen, sie sei Kitsch.

Doch für Natur ist in den nächsten Tagen ohnehin nicht viel Zeit. Auf dem Programm stehen vormittags, nachmittags und abends Lesungen und Gespräche. Diesjähriges Thema der Rauriser Literaturtage: Aufbrüche. Die großen Geschichten der Menschheit erzählen von Aufbrüchen und Wanderungen, freiwilligen ebenso wie unfreiwilligen. Die Bibel (zum Beispiel das entsprechend benannte Buch "Exodus"), die "Odyssee", die "Aeneis" ... Wichtige Gründungsgeschichten sind oft Migrationsgeschichten, meint denn auch Karl-Markus Gauß bei seiner Lesung und ergänzt: "Die Migration steht am Beginn der europäischen Zivilisation." Und sie prägt so manche Familiengeschichte, nicht nur jene von Gauß, in die er im Rauriser Gasthof Grimming Einblicke gab.

Migrationen, aber auch Aufbrüche anderer Art hatten Manfred Mittermayer und Ines Schütz im Blick, als sie das Programm der diesjährigen Rauriser Literaturtage zusammenstellten, das damit per se eine gesellschaftspolitische Note bekam. Literatur baue Brücken über alle Grenzen hinweg, wünscht sich der Rauriser Bürgermeister Peter Loitfellner in seiner Begrüßung, und diese Hoffnung scheinen auch die beiden Intendanten zu teilen, die hier Literatur offensichtlich durchaus als Gegenmittel gegen eine Nicht-Willkommenskultur verstanden wissen wollen. Die Frage nach Aufbruch, freiwillig oder erzwungen, wird rasch zu einer Frage nach dem Wie und Wo des Ankommens, das erleichtert oder erschwert werden kann. Auch davon erzählt Literatur von jeher und in zahlreichen Varianten - und sie kann damit vielleicht Verständnis wecken und zu Empathie einladen.

Aufbrüche und Brüche

Aufbrüche sind und produzieren oft Brüche und manchmal werden Gespräche darüber politisch konkret. Vladimir Vertlib etwa, der auf der Heimalm (!) aus seinem Roman "Viktor hilft" liest, erzählt über seine Erfahrungen als Flüchtlingshelfer im Herbst 2015 und die Erinnerungen an seinen eigenen Aufbruch damals als Kind. Er lenkt den Blick auf ein oft ignoriertes Thema, nämlich wie Kinder Flucht, die sie oft erst später begreifen, erleben und erinnern.

Verena Mermer wiederum begleitet in ihrem Roman "Autobus Ultima Speranza" unterschiedliche Menschen und ihre Schicksale im Autobus nach Rumänien. Zahlreiche Gespräche liegen dem Roman zugrunde, für den sie die Fakten fiktionalisierte, geschickt gestaltete und miteinander verwob. Der Bus ist hier nicht nur ein Vehikel von Wien nach Bukarest oder ein Träger vieler Lebensgeschichten, sondern auch eine Gesellschaft im Kleinen, er erlaubt den Blick auf viele unterschiedliche Schicksale, die ganz zufällig aufeinandertreffen und eine Fahrt lang einander ausgesetzt sind, in einem Raum.

In Vehikeln besonderer Art werden die Zuhörerinnen und Zuhörer am Donnerstag Abend auf die Heimalm gebracht: in Gondeln. Erst nach Ende der Veranstaltung wird die Seilbahn wieder in Gang gesetzt, ist ein Aufbruch ins nächtliche Tal möglich. Einzigartig diese Atmosphäre auf 1450 Metern Seehöhe, wo so viele Menschen unterschiedlichen Alters eng aneinandergedrängt Literatur hören. Beeindruckend auch der Samstag Vormittag, an dem sich trotz bestem Wetter der Gastraum des Platzwirts füllt und man den drei unterschiedlichen Lesungen und Gesprächen von und mit Simone Lappert, Tom Schulz und Aleš Šteger lauschen kann.

Literaturfestivals sind in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Rauriser Literaturtage werden nächstes Jahr ihren 50. Geburtstag feiern. Sie sind auch heute noch etwas Besonderes. Sie bringen in Gasthöfen, auf der Berghütte, in Bauernhöfen und Pensionen unterschiedliche Lesergruppen zusammen: Rauriser, Gäste, Studierende, Verleger, Journalisten, Literaturvermittler und Autorinnen und Autoren.

Studierende aus fünf Universitäten erproben hier in aller Öffentlichkeit, die ein Gastraum bietet, das Erlernte, stellen ihre in Seminaren gemeinsam erarbeiteten Fragen. Philipp Weiss, der für seinen fünfbändigen Roman "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" mit dem diesjährigen Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet wurde, wird etwa gefragt: "Machen Sie bewusste Anleihen an die Romantik oder sind Sie der geborene Romantiker des 21. Jahrhunderts?" Eine Frage, die der Autor klar beantwortet: "Ich bin ein urromantischer Denker." Was er auch erklärt und begründet: Romantisch im Sinne der Romantik als Denken der Totalität und des Zusammenhangs, wie es die Klimaforschung heute auch brauche. Wissen und Denken hätten sich zu sehr fragmentiert. Sarah Michaela Orlovský wiederum begeistert nicht nur mit ihrer Antwort auf die Frage, wie sie Kinder-und Jugendliteratur von Erwachsenenliteratur unterscheide: "Literatur ist für alle da!"

Und dann gibt es Aufbrüche, so existentiell wie der Sterbewunsch des Protagonisten von Daniel Wissers Roman "Königin der Berge". Wissers mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichneter Roman führt zu einem anderen wichtigen gesellschaftlichen Thema, der Pflege. Er erzählt vom Alltag in einem Heim und wie es einem MS-Patienten geht, der dort auch intellektuell unterfordert ist.

Spurensuche in der Vergangenheit

Aufbrüche müssen manchmal in die Vergangenheit führen. Das zeigt sich am Beispiel von Susanne Fritz, die beeindruckend davon erzählt, wie sie dem Leben ihrer Mutter nachforschte, die als Jugendliche vier Jahre lang in einem polnischen Arbeitslager überstehen musste. Ihr Buch "Wie kommt der Krieg ins Kind" erweist sich dabei als Spurensuche in einer sehr persönlichen Geschichte, aber darüber hinaus auch als Gratwanderung durch bisher wenig betretenes und ideologisch vermintes Gelände. Die Lager, die unter deutscher Besatzung entstanden, wurden unmittelbar nach dem Krieg zu polnischen Arbeitslagern. Man griff sich Deutsche, unbekümmert darüber, dass Kinder wohl kaum Schuld auf sich geladen haben konnten. "Wer hat für diesen Hass gesorgt?", "wer hat das geschürt?", fragt Fritz.

Es wäre Zeit für ein gemeinsames Erinnern, wünscht sich Fritz. Man tue sich schwer, es gebe Gedenkstätten, aber die seien getrennt. "Vielleicht kann das Buch ein Beitrag sein, nicht nur für die Literatur, sondern auch für die Verständigung und Versöhnung, da wäre mir sehr daran gelegen." Und vielleicht sind auch die Rauriser Literaturtage ein Beitrag dazu.

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