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Poeten in Calgary

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Als Poet zu Gast bei Olympischen Spielen: Ja, genauso festlich und ein wenig anachronistisch, wie es im Titel der Veranstaltung anklingt, wollten die Gastgeber es haben. Autoren aus aller Welt weilten als Gäste des Olympischen Komitees und der Stadt Calgary im westlichen Kanada an der Stätte der XV. Olympischen Winterspiele. Erstmals wieder seit 1948 wurden, nach antikem Vorbild, auch die Literaten zur Feier eingeladen, allerdings nicht, um Ehren und Medaillen zu erwerben. Nicht einmal Lorbeerzweige gab es in der Stadt, wo während des fünftägigen Festivals ununterbrochen Temperaturen zwischen minus 30 und minus 20 Grad herrschten. Ungewöhnlich kalt, gewiß, aber nichts ist ungewöhnlich im kanadischen Winter, und die Herzlichkeit der Gastgeber machte dieses arktische Klima denn auch mehr als wett.

Ich darf für mich und meine Kollegen sagen, daß wir uns selten so glücklich und erwünscht gefühlt haben wie in Calgary. Etwa fünfzig Romanciers, Lyriker, Essayisten, Sachbuch- und Science-fiction-Autoren, die Hälfte davon aus dem Ausland, fanden sich ein und beteiligten sich an Diskussionsrunden, Seminaren und Lesungen, die sich mit den literarischen und allgemein menschlichen Themen unserer Zeit befaßten. Alle Veranstaltungen waren öffentlich zugänglich, die meisten wurden vom Fernsehen aufgezeichnet, und jede Veranstaltung war trotz relativ hoher Eintrittsgebühren ausverkauft.

Da saßen jeweils vier oder sechs Autoren und lieferten einander, oft in brüchigem Englisch, konstruktive Wortgefechte zu Themen, die von der Frauenliteratur über die Frage nach der Zukunft unseres Schreibens und unseres Planeten zur Reiseliteratur und zu neuen Methoden des Bücherverlegens reichten. Mehr als zwanzig solche Diskussionsrunden, dazu ebensoviele Abendlesungen (und weitere Tageslesungen) fanden statt, und jedesmal fanden sich Hunderte von Menschen ein. Ihr Interesse, ihre Anteilnahme, ihre herzliche Dankbarkeit für jede Anregung werden allen Autoren in Erinnerung bleiben.

Unsereiner dachte da traurig an die Schwierigkeiten hierzulande, einen Vortragssaal mit einer literarischen Lesung zu füllen, und an die Aggressionen, die zwischen sogenannten Autorenkollegen nur zu oft jedes Gespräch zum Wortkrieg verkommen lassen. Unsereiner bedauerte die in deutschen Landen unerläßlich scheinende ideologische Ausrichtung und Vorverurteilung eines Autors in links oder rechts, und unsereiner wunderte sich, warum man, als Vertreter des österreichischen PEN-Clubs angereist, dann auch gleich der einzige deutsch schreibende Autor im Forum wurde.

Trevor Carolan, der Organisator des Festivals, das bei kommenden Olympiaden hoffentlich wiederholt wird, wußte selbst nicht, wie es dazu kam. Er hatte eine ganze Anzahl von Autoren aus der Bundesrepublik und aus der Schweiz angeschrieben, aber Antwort erhielt er entweder gar nicht oder nur in Form von Absagen. Ich könnte mir vorstellen, daß Calgary nicht so verlockend klingt wie Rio oder San Francisco, und daß eine Portion kultureller Arroganz dabei eine Rolle gespielt haben könnte.

Das Autorentreffen blieb jedenfalls vom schönen Gefühl getragen, bei allen Unterschieden der Herkunft dieselbe Sprache zu sprechen, und gerade der Unterschied zwischen Ost und West wurde in den Autorengesprächen manchmal hinfällig. Das reiche und großzügige gesellschaftliche Programm ermöglichte neue Freundschaften zwischen den Schriftstellern, Freundschaften, die nicht im Oberflächlichen der Stunde steckenbleiben werden.

Weil Calgary die harten Winter gewohnt ist, gibt es gleichermaßen eine Stadt in der Stadt, nämlich die Möglichkeit, kilometerweit einkaufen, in Museen, Theater und Restaurants zu gehen, ohne jemals ins Freie zu müssen. Die Autoren wohnten in einem erstklassigen Hotel neben dem Aussichtsturm Calgary Tower, an dessen Spitze etwa 200 Meter über der Stadt während der Olympiade eine Fackel leuchtet, gespeist aus den reichen Gasvorkommen der Provinz Alberta. Seminare und Lesungen fanden im Kongreßzentrum nebenan statt, und wer den Winter nicht spüren wollte, der konnte in den behaglichen Hallen bleiben. Nur wer aus den Fenstern der Zimmer schaute, der merkte das dicke Eis, auch den weißen Rauch der gigantischen Heizsysteme, der die ganze Stadt durchzog und geheimnisvoll machte.

Ich genoß die extreme Kälte. Sie führt den Körper ganz auf sich selber zurück. Die Haut beginnt nach einiger Zeit ihr Eigenleben, wird elektrisch, die Haare setzen Eis an, obwohl die Sonne scheint. Es atmet sich, als würde mit jedem Einatmen ein Messer in die Lungen schneiden, aber das Messer tut nicht weh, im Gegenteil: man weitet sich gleichsam diesem Fließen der Luft.

Gegen Abend ging ich gern durch die Innenstadt. Die Wolkenkratzer erstrahlten dann im grüngelben Glanz ihrer neonbeleuchteten Fenster, und zugleich spiegelte sich das letzte Rot im Westen. Die Rauchfahnen täuschten Gebirge vor, und ich, bislang ein Winterhasser, liebte diese Kälte wie alles'Extreme. Es war gut durch die Dämmerung zu stapfen, bei klarem Sternenhimmel, die Wolkenkratzer verbreiteten etwas wie Freude und Kraft, ja fast eine Zukunftsungeduld.

Das Beeindruckendste an diesem „Olympic Arts Festival“ (und zweifellos auch an den Olympischen Winterspielen) sind die Gastgeber, die Menschen von Calgary- Nicht die Veranstalter meine ich, deren Planung Hand und Fuß hat, sondern die sogenannten „volunteers“, die Freiwilligen, die das Ganze erst möglich machen. Uberall sind sie anzutreffen, am Flughafen schon, auf den Straßen, in den Hotelhallen, und alle tragen sie Anoraks und Handschuhe in den Türkisfarben, die für die Olympiade gewählt wurden. Sie geben, jeder und jede von ihnen, Hunderte Stunden ihrer Freizeit her, natürlich unbezahlt, um für das Gelingen dieser fünf Wochen zu sorgen, in denen die Welt nach Calgary kommt und sich wohl fühlen soll.

Fünf Wochen dauern nämlich die kulturellen Rahmenprogramme um die eigentliche Olympiade herum; es gibt Konzerte, Ballett, Film, Theater, das Autorenfestival: alles mit Weltklasseanspruch. Noch nie hat das westliche Kanada etwas Ahnliches erlebt, und alle sind sich einig: wenn die Olympischen Spiele erst vorüber sind, werden wir nie wieder in den alten Trott zurückfallen. Denn dann werden wir verwöhnt sein, und welthungrig.

Ich habe mich auf meinen Reisen noch nie so wohl gefühlt, und so unaufdringlich umhegt, und als Schriftsteller so ernst genommen wie in Calgary. Mein Empfinden teilten die übrigen Autoren, keiner bereute es, die Reise angetreten zu haben. Wenn der Olympischen Idee gedient wurde, dann hier. Das oft unglaubwürdig gebrauchte Wort Frieden, der Wunsch und das Gebet danach, das bereits alle dem Festival vorangehenden Briefe beschloß, es erhob sich hier über alles Phrasenhafte, es überzeugte, gleichgültig welcher Kultur wir angehörten. Das war das Freudige dieser Tage, die bei allem Verwöhntwerden doch und vor allem Arbeit waren, ein permanentes Angespanntsein im Gespräch und im Formulieren dessen, was uns alle angeht.

Wie sehr wir in diesen weltweiten Anliegen dieselbe Sprache sprechen, gleichgültig ob wir aus China (Gu Hua), aus Australien (Blanche d'Alpuget, Rodney Hall), aus Brasilien (Ledo Ivo), aus Frankreich (Marie Cardinal), aus Irland (J. P. Donleavy), aus der Republik Korea (Yoon Chong-Heuk), aus dem Libanon (Emily Nasrallah), aus Japan (Kazuko Shiraishi) oder aus Polen (Riszard Kapuscinski) und der UdSSR (Jaan Kaplinski) stammen, das muß einem gelegentlich bewußt werden, um neuen Mut zu fassen. Und hierin liegt wohl der Sinn eines solchen Festivals. Wie ein betagter Kollege es ausdrückte: „Ich habe das Gefühl, als sollten wir hier belohnt werden für Jahrzehnte einsamen Schreibens.“ Vielleicht verdienen wir nicht alle die Belohnung, aber brauchen können wir dieses Wohlwollen schon.

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