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Ausklang und Einklang

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Wiens Theatersaison beginnt Der Zauber Salzburgs, den Wienern fern, zu teuer, kehrt in die große Stadt: Gielens Festspielinszenierung von Shakespeares „Was Ihr wollt“ läßt sich im Ronacher-gebäude nieder. Alt und jung werden sie hier besehen, und des Zustroms wird kein Ende sein — so viel Glanz und Schimmer und Heiterkeit liegt auf dieser Aufführung, des dunklen Abgesanges nicht zu vergessen, der das Scherzspiel erst zum Klingen, zum Nachtönen bringt wie der jähe Stoß an den Rand des übervollen Glases. Kein einziger Mißklang, kein Mißton, drei Stunden schwereloser Scherz. Das ist viel.

„Wie die Umgestaltung der Natur, so ist die Umgestaltung der Gesellschaft ein Befreiungsakt, und es sind die Freuden der Befreiung, welche das Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte.

„Alle Vormärsche nämlich, jede Emanzipation von der Natur In der Produktion, führen zu einer Umgestaltung der Gesellschaff, alle jene Versuche In neuer Richtung, welche die Menschheit unternommen hat, ihr Los zu bessern, verleihen uns, ob In den Literaturen geglückt oder mißglückt geschildert, ein Gefühl des Triumphes und des Zutrauens und verschaffen uns Genuß an den Möglichkeiten des Wandels aller Dinge. Dies drückt Galilei aus, wenn er sagt: ,Es ist meine Ansicht, daß die Erde sehr nobel und bewundernswert ist, angesichts so vieler und verschiedener Änderungen und Generationen, welche unaufhörlich auf Ihr vorkommen.'“

So Bertold Brecht („Kleines Organon für das Theater“ in „Sinn und Form“, Berlin 1949). Sein Anliegen ist nicht zu verharmlosen: Durchaus ein neuer Galilei, dem er selbst ein Drama widmet, ein Kopernikus des Theaters wünscht er zu werden, der das ganze alte Theater von Aischylos über Shakespeare bis zu Goethes „Iphigenie“ aus den Angeln hebt. In Furcht und Mitleid befangen, magischer Verwandlung ergeben, heimliche Hochzelt von Schauspieler und Publikum in Gottesdiensten aller Art, war, Brecht zufolge, das alte Theater des „vorwissenschaftlichen Zeitalters“. Ein neues Theater will Brecht stiften, jenes des „freien Menschen“ des „wissenschaftlichen Zeitalters“, der kritisch wach, aktiv in hoher Selbständigkeit dem Geschehen auf der Bühne gegenübersteht, das durch „Verfremdungseffekte“ ihm in jedem Moment des Spiels die Möglichkeit geben soll, frei Stellung Zu nehmen, zu urteilen und, im erschütternden Erlebnis dieser Freiheit, sich zu rüsten: zu eigenem Handeln am Neubau der Gesellschaft, dieser ganzen Welt. Brecht, der bayrische' Kalvinist, fasziniert vom „Volk“, vom drallsten Volksleben, das er in seinen „Volksstücken“ darzustellen sich müht, fasziniert zugleich vom AbsolUtsheitsanspruch seines neuen Gottes, des dialektischen Materialismus, will das neue Theater als Homo-dizee, als Rechtfertigung des Menschen, während das alte Theater, verborgen und unverborgen, Theodicee, Rechtfertigung des Gottes aus und in den Taten der Menschen war.

„Episches Theater“ also: Die Taten und Leiden des Menschen, in spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen — im Eigenstand, im Abstand zur Bühne soll sie der Zuschauer besehen, nicht hingerissen von Mitleiden, „mitlebend“ ihrem Zauber ergeben, sondern aufgerufen zu eigener Stellungnahme, entflammt zur revolutionären Aktion. Verwandlung der Welt — nicht in der Magie der Bühne, sondern In der Wirklichkeit des neuen Tages. Es ist klar, daß dieses durchaus revolutionäre Theater — das einzige revolutionäre Theater, das es heute gibt — eine totale Umerziehung der Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner, Dichter voraussetzt. Wie weit dieses Werk bereits aus der Theorie in die Praxis überführt worden ist, wird Wien In diesen Tagen sehen: Brechts eigenes, von ihm selbst mit Helene Weigel ausgebildete Ensemble, stellt sich mit Brechts Bearbeitung des Lenzschen Stückes „Der Hofmeister“ vor.

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