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Der Hirt

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Die hinter den Bergen aufsteigende Morgensonne meistert den Himmel, daß seine letzten Sterne erloschen, im Westen sein Blau sich vertiefte, je weiter aber er sich nach Osten wölbte, seine Farben von Silber zu Gold und endlich zu Blut wurde. Die versteckte Hochwiese mit ihren vier Felsenmauern lag noch im Schatten; aber jeder grüne Halm, jeder Stein und jede Blume im Gras hatten in der Morgenhelle schon eigene Gestalt. Wind kam und strich durch die Einsamkeit. Da und dort lief ein leiser Schauer von der Wurzel zur Spitze über einen der erdkräftigen Halme.

Vor der Hütte mit den vier rohen Mauern und dem wetterschwarzen Schindeldach saß Giuseppe Biondi, der blinde Hirt. Unweit von ihm lag , ein großes graues, dickwolliges Schaf. Er rief es Gina, wenn er es rief. Jetzt aber saß er da wie ein Steinbild, lang, hager, in zertragenen Kleidern, einen wetterzerbissenen Filz auf dem Haar, das so grau und wollig wie der Schafspelz war. Der Wind kam auch zu ihm, fingerte an seinem zerzausten Bart und um die buschigen Brauen. Giuseppe zuckte leise mit den Lidern. Sie und die Stirn, die Haut des Runzelgesichtes überhaupt, sogen den frostigen Atem des Morgens ein. Jeden Tag erlebte er so den Sonnenaufgang, mit dem Hauch erster Wärme, den der Wind heranträgt, bis zum Streicheln des frühen Lichtstrahls, der über den Piz Chiaro blitzt und ihm wie Traum an die Wange rührt.

Ein Menschenalter lang hatte Giuseppe Biondi die Schafe von Pfaid gehütet, ein Menschenalter lang hier oben mit ihnen gealpnet. Jetzt alpnete er nur sich selbst und Gina, sein letztes eigenes Schaf. Eine Enkelin trug ihm zu, was er zum Unterhalt brauchte, säuberte manchmal die Hütte und holte ihn ins Tal zurück, wenn es gegen den Herbst ging. Mehr brauchte er nicht, wollte er nicht. Er mußte nur die Luft haben, in der er immer geatmet hatte. Der Winter in Pfaid war ihm endlos. Die Tochter, bei der er wohnte, und ihre Kinder bedeuteten ihm nichts, oder vielmehr er hatte den Sinn für sie verloren. In der strahlenden oder stürmischen oder eisigkühlen Freiheit der Natur hatte er sich der Menschen entwöhnt.

Hütte und Alp gehörten der Gemeinde, aber sie überließ beide ihrem alten Diener zum Sammerwohnsitz. In jener kannte er jeden Winkel und auf dieser jeden Fleck Erde. Sein Fuß fühlte durch die Holzsandalen hindurch Bodenbrett und Mattengrund. Jedes Möbel in der Stube, jede Bodenanschwellung draußen erkannte der Blinde, so daß er nirgends zu tasten oder zu zögern brauchte.

Gina, das Schaf, lag mit langgestrecktem Hals, den Kopf dicht am Boden. Wie der Hirt glich es einer Steinfigur. Aber die großen runden Augen lebten und blinzelten nach Biondi hinüber, wie ein Hund die Bewegung seines Herrn bewacht. Vielleicht antwortete es auf Biondis Ansprache; denn manchmal, während sie so beisammensaßen, sprach der Hirt. Er hatte eine tiefe heisere, von Wettern zermorschte Stimme. Und er sprach mit Gina, wenn die Murmeltiere pfiffen oder eine Alpenkrähe kreischte: „Hast du gehört?“, wenn er über das Vergangene grübelte, die Herden, die er getrieben, die Orte, wo er geweidet. .Wo sind deine Kameraden, Gina?“ .Schön war es auf Alp Sernaunl“ oder, wenn ihm der Gedanke an sein langsames, zuletzt völliges Erblinden kam: .Sonderbar, wie das Nacht wurde I“---Antwort kam ihm nicht, war nicht not. Etwas schwebte zwischen Mensch und Tier, das sie irgendwie umeinander wissen ließ.

An diesem Morgen geschah etwas Sonderbares. Die Sonne stand jetzt schon hoch. “Sie warf ihre ganze Glut in die Alpe, aber auch der Wind war erwacht und zerriß sie mit seinem Atem, daß die Strahlensplitter als leiswarme Tupfen über Biondi fielen, als er in die Hütte zurückging, um zu frühstücken.

Das Schaf folgte ihm.

Die Mahlzeit war bald vorbei. Biondi schob das Taburett vom Tisch; es kam unter das doppelflügelige offene, einzige Fenster zu stehen, das nur halb mannshoch über dem Boden sich befand. Dann kehrte der Hirt ins Freie zurück. Immer um diese Stunde machte er seinen Alpgang.

Ein Zufall oder ein Windstoß warf die Tür zwischen ihm und Gina ins Schloß, als diese ihm nachtrotten wollte.

Giuseppe achtete nicht darauf. Er war heute sonderbar zerstreut. Während seines Frühstücks war ihm eingefallen, wie er einmal über dem Trusafall gefrühstückt hatte, in dem am Alpende sich ein Gletscherbach in die Tiefe stürzte. Dabei hatte ihn die Lust befallen, sein Zischen und Tosen wieder zu hören, sich hinzusetzen und sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie es damals gewesen, da er noch mit sehenden Augen begabt war und hier sein Frühbrot verzehrt hatte. Er lief vom Hause fort wie einer, der an einem Seit gezogen wird. Sein Gehör war ungemein scharf, seit das Gesicht versagte. Irgendwie lag ihm schon ein fernes Brausen in den Ohren. Er taumelte ihm gleichsam entgegen.

Gezwungen von der Notwendigkeit, sich zu orientieren, verlangsamte er später die Schritte. Jetzt fiel ihm ein, daß Gina nicht bei ihm war. Aber er vergaß es wieder. Mit witternden Nüstern schritt er weiter, mit der erstaunlichen Sicherheit, die gleichsam aus dem Erdboden in seine Füße strömte. Schon hörte er näher den Wassersturz. Die Brust hob sich ihm. Er wußte ganz genau wieder, welch gewaltiges Bild sich dort drüben bot. Wie der Wildbach plötzlich ins Leere schoß, wie Staub und Gischt in Regenbogenfarben aus der Tiefe stiegen und einem das Gesicht netzten.

Plötzlich ertönte zu seiner Rechten der Gesang eines Vogels. Es mochte eine Bergamsel sein. Aber sie sang so ungewöhnlich sehnsüchtig und schön und laut, daß Biondi stillstehen und lauschen mußte. Es dauerte nur Sekunden. Dann verstummte die Vogelstimme so plötzlich, wie sie aufgeklungen war. Giuseppe wollte weitergehen. Aber — was ihm nie geschehen war, auf einmal fehlte ihm die Richtung. Als hätte der Vogel ihn seitab gelockt. Er besann sich. Er schnupperte. Er tat ein paar Schritte zur Linken, zur Rechten. Dann steigerte sich seine Unsicherheit. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand.

.Tatata“, schimpfte er in sich hinein. Dann tappte er fürbaß. Das Brausen des Falles verstärkte sich. Aber es schien von der Seite zu kommen. Er konnte nicht sagen, woher. Da tastete er mit den Händen nach dem Boden. Und siehe, es schien ihm, der weiche hinweg. Sein mutiges Herz zitterte. Er ließ sich nieder. Seine Beine glitten ins Leere, aber mit den Händen faßte er Grund und saß. Am Abgrund sitzest du, dachte er. Schweiß stieg ihm über den Rücken zum Kopf. —

Gina, das Schaf, hatte mit dem Maule an die Tür gepocht. Es hatte die Schritte des Hirten gehört, wie sie verklangen. Unruhig lief das Tier in der Stube herum. Durchs Fenster atmete die morgendliche Alp. Da stieß Gina an das Taburett. Sie sah den Stuhl. Sie besprang ihn mit den Vorderbeinen. Die Nüstern atmeten die freie Luft. Im nächsten Augenblick stand sie auf dem Stuhl. Dann übersprang sie das niedere Gesims.

Jetzt befand sich das Schaf im Freien. Ein Zögern. Ein nochmaliges suchendes unruhiges „Bäh — Bäh“. Plötzlich begann es zu laufen.

Giuseppe Biondi saß am Alpende, dort, wo zerklüftete Felsen klaftertief in den Wald hinabsteigen. Seine Finger zuckten und krallten sich in Gras. Sein Oberkörper schwang hin und her. Ein Schwindelgefühl ließ ihn fürchten, er werde jeden Augenblick in die Tiefe stürzen. Zur Rechten, wie ihm schien, näher, donnernder als früher, brauste der Trusafall. Aber horch! War das nicht ein Blöken? .Bäh — Bäh!“

Bondi legte sich auf den Rücken. Er hatte plötzlich wieder Mut, Sicherheit. Nach hinten war Alpgrund, ertastete er. Noch ehe er sich aber aufrichten konnte, hörte er die klopfenden Tritte eines galoppierenden Tieres. Dann stieß eine Schnauze ihn an dia Wange. .Gina“j keuchte Biondi. Seine Hand fuhr in das wollige Fell. Er arbeitete sich auf die Füße. Er wartete. Gina begann zu gehen.

Mensch und Tier sind stumm. Sie schreiten langsam über das Alpgras. Die Finger des Hirten sind in die Wolle des Schafes geklammert. Aber schon arbeiten die totgewesenen Sinne wieder. Die Nüstern winden. Langsam geht dem Hirten der Weg wieder auf. Langsam stirbt hinter ihm das Brausen des Alpbachs. —

Die Amsel singt wieder.

Biondi zuckt mit dem Kopf in der Richtung nach dem Tone. Auch der wird leiser, ferner, wundersamer.

Aber Giuseppe geht rascher und rascher. Jetzt ist er wie ein Kind, das heimspringt

Er springt wirklich! denn er weiß die Richtung. Auch Gina, das Schaf, muß mitgaloppieren.

Köstlich, wie sie laufe als versäumten sie den Zug.

Dort liegt schon die Hftttel Ganz genau dort — drüben — von wo der Wind her-wehtl

Biondi hält an, überwältigt vom Gefühl der Erlösung nach überstandener Todesfurcht, hochgerissen von neuer Freude am Leben und Alp. Noch hält er das Schaf, ertastet den Kopf, fährt langsam, zärtlich darüber: „Ginal“ Im Zittern seiner Stimme liegt eine dumpfe Zufriedenheit, eine unbewußte Dankbarkeit, nicht nur gegen Gina, das Tier.

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