6668796-1960_50_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Stunde des Gottsuchers

Werbung
Werbung
Werbung

Während ich unsere Schafe und Ziegen molk, kam Kaliope gelaufen. „Paride hat einen Anfall“, schrie sie, „kommt! Ich gehe Karamanlis suchen.“ Sie lief wichtig weiter.

Bakchylides half mir nun, die Tiere zu versorgen. Sie waren unruhig und hatten wenig Milch. Was für Kräfte mochten das sein, die sich als unsichtbare Wolke auf die Insel niedergelassen hatten und Menschen und Tiere peinigten? Andruljos tobte gegen den Käfig seines Lebens, die Trappen waren scheuer, die Elstern vorwitziger als sonst, die Schafe und Ziegen tänzelten in rastloser Erregung, ohne daß es eine Erklärung für ihr Benehmen gab. „Karamama hätte geweihte Kerzen angezündet“, brummte Bakchylides, „es sind immer solche Tage, die Paride den Mund aufmachen.“

Die Schafherde stand eng zusammengedrängt wie in Gewitterangst hinter dem Haus, um den Widder geschart, und drei Dutzend bernsteinfarbige Augenpaare hielten uns fest, als hinge alles Heil der Welt von uns ab. Mir war, als hätte die Herde nur ein einziges Auge, das riesengroß und hilfeheischend auf uns gerichtet war, ich meinte die Herdeuseele zu ahnen, die sich mit der gemeinsamen Furcht und Kraft aller Tiere an uns klammerte. Die dünnen Beine trommelten nervös auf den blankgetretenen Erdboden, die Schwänze zuckten und die Köpfe blieben uns starr zugewandt. Was sahen, was wußten die Tiere von den Dingen, die uns verborgen blieben, von Erscheinungen, die wir nicht einmal als Schatten auf dem sonnendurchglühten Land wahrnahmen, und die doch heimliches Grauen durch unsere Adern rinnen ließen?

Wir gingen davon. Die Herde, dieser vielköpfige, vielfüßige Tierleib, machte einen Schritt hinter uns her, doch er blieb, in altgewohntem Gehorsam bebend, zum Ausharren wie zum Tode verurteilt, trostlos stehen, als wir uns entfernten.

Paride saß auf dem runden Felsblock vor Kaliopes Haus, mit untergeschlagenen Beinen und im Türkensitz. Er hatte die Arme steil erhoben, daß sie aussahen wie Hörner, die sich in den Himmel bohrten. Lais stand vor ihm, sie schaute ihm gebannt ins Gesicht. Hinter ihr lehnte Pawlis an Kaliopes Gartenzaun, eingerahmt von Kletterrosen und Asphodelen, und rauchte. Karamanlis lag auf einem ansteigenden Rasenstück, aß Oliven und Brot und hatte eine Kürbisflasche mit Wein neben sich stehen.

„Gott!“ rief Paride jetzt, nur dieses eine Wort. Es schwang, sauste über uns wie eine Säbelklinge, die Zuhörer zogen die Hälse ein, als fürchteten sie um ihre Köpfe. Paride verfiel in ein unverständliches Murmeln. Seine Augäpfel waren in Verzückung verdreht, nur ihr Weißes zeigte sich und sah aus wie in Sand gebettete Vogeleier.

Surmelina saß neben Karamanlis, hielt sich an seinem Knie fest. Ihr war anzusehen, daß ihr jedes Wort und jeder Seufzer Parides ins Herz fuhr, während er dem Benehmen des Rasenden so gelassen zusah wie dem Grasen einer Kuh oder dem Flug eines Reihers. Aspasia und Alope, von Neugierde gezogen, von Furcht gestoßen, standen nahe beisammen vor der Tür zu Kaliopes Haus, bereit, jeden Augenblick die Flucht zu ergreifen. Bakchylides stieß mich mit dem Ellbogen an und deutete mit dem Kinn zu Mawrandonis und Andruljos, die dort, wo Kaliopes Gartenzaun eine Ecke bildete, unter einem Maulbeerbaum saßen. Ihre Gesichter waren feindselig und verdrossen.

„Gott, Unerforschlicher“, sagte Paride deutlich, als wollte er eine neugewonnene Erkenntnis festhalten. Seine Lippen zuckten und seine Zähne schlugen wie im Fieber gegeneinander. Jetzt sah ich, daß sein Oberkörper mit Striemen und verkrustetem Blutgerinnsel bedeckt war. Im Gras unter dem Felsblock lag eine Geißel.

„Hör zu“, sagte Bakchylides leise neben mir, „i-er diese Worte kannst du dein Leben lang nachdenken.“ Ich verstand nicht, was er meinte, zu sehr war ich mit dem beschäftigt, was ich sah. Er aber fuhr fort: „Du bist jung, Söhnchen, eines Tages wird dieses Wort in dir aufstehen und Besitz ergreifen von deiner Seele.“

Paride zitterte, ein neues Wort rollte in ihm, wälzte sich empor an die Türschwelle seines Mundes. „Gott Menschenjäger“ stöhnte er. Seine Wangen waren hohl vom Fasten, seine Kehle trocken vor Durst. Jetzt war auch ich gepackt vom Ton seiner heiseren Stimme, vom Sinn seiner Worte. Mir war, als stünde hinter ihm eine Riesengestalt, die mit einem Speer auf mich zielte, und als ich den Blick hob, fühlte ich das Rund des Himmels als ein drohendes Auge auf mich gerichtet. Ein Teil meines Wesens zog mich zu Paride, begierig, ihm ähnlich zu werden, tapfer in jeder Faser. Gleichzeitig jedoch hüpfte mein Herz davon, wehrte ich mich dagegen, einmal so zu leiden wie er, geschunden zu werden von einem unsichtbaren Gegner, den er Gott nannte. Mein Blick irrte zu Lais, als könnte ich bei ihr Halt und Rettung finden. Ich reckte mich, schon fühlte ich Kraft, Paride zu widerstehen, Sehnsucht nach ihr strömte in mich ein und drängte die Empfindungen fort, die an mir rissen. Mein Auge, meine Gedanken verwandelten sich. Ein wenig früher hatte ich gemeint, daß nur wenig mich davon trennte, die Botschaft der im Sande liegenden Geißel lesen zu können wie eine Schrift. Ich hatte mich ähnlicher Eindrücke erinnert, die mich beim Betrachten der Borkenkäfergänge an entrindeten Pinien überkommen hatten, die mir vorgekommen waren wie die Schrift eines für mich sehr wichtigen Buches, um dessen Geheimnisse ich mich mühen müßte. Dies alles löste sich auf wie Frühdunst in der Sonne, die Geißel war nur ein Holzgriff, in dessen Lederriemen rostige Nägel eingeknotet waren, und Paride, ein armer, alter Mann, der Dingen nachjagte, die mich nichts Ingingen. Mir war, als hätte ich Lais eingeatmet, als wäre sie durch meine Augen in mich geschlüpft. Ich fühlte meine Lippen sich runden, bis sie so wie die ihren waren, ihre Brüste dehnten sich innen in mir, unsere Lenden verschmolzen inwendig in einen gemeinsamen, einen einzigen Körper. Sie war jetzt mein Ziel, sie rief, sie lockte mich zu den neuen Bildern, die in mir aufstiegen. Einen Atemzug lang trafen einander unsere Blicke, es war, als spränge ein Fenster auf, an dem ich gerüttelt, eine Landschaft lag vor mir, offen, unverhüllt, eine Landschaft, die auf mich wartete und auf die ich gewartet hatte, funkelnd, rätselhaft wie das Bild der Welt in einem Tautropfen. Mit aller Gewalt meines Willens suchte ich diesen Blick, diesen blauen Brunnen mit seiner unermeßlichen Tiefe, festzuhalten, einzuatmen, auszutrinken. Doch Lais wandte ihren Kopf von mir fort und Paride zu. Im gleichen Augenblick wiifl feto nirht mehr, wie die Landschaft der Verheißung beschaffen war, wußte ich nicht, ob der Ruf mir gegolten hatte oder einem Wesen, das Laus durch mich hindurch angeblickt hatte, und sie war mir fern wie in den Wochen und Monaten zuvor, in denen ich vergeblich auf diese Begegnung gehofft hatte.

Surmelina hatte sich vor Paride auf die Knie geworfen. „Sprich zu mir, sag nur ein Wort...“ bettelte sie. ,Lais war zurückgetreten, sie blickte zu Boden, den Kopf gesenkt, als habe sie eine Last zu tragen. Mawrandonis in seiner Ecke spuckte in den Staub und lachte über eine Bemerkung, die Andruljos ihm zugemurmelt hatte. Pawlis hatte einen fragenden Ausdruck, er sah Lais unsicher an. Aspasia und Alope hatten ihre ängstliche Spannung verloren; sie saßen auf der Bank vor Kaliopes Küchenfenster und schwatzten in schnellen Redewendungen.

„Sprich, Paride“, rief Surmelina abermals. Parides Lippen öffneten sich, seine Augäpfel kamen in Bewegung, kehrten wie mit zögernden Schritten in die gewohnte Stellung zurück. Seine Blicke tasteten staunend über die Menschengruppe, gewannen Wärme und Kraft an den vertrauten Gestalten und Dingen Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ein Seufzen aus mehreren Kehlen begleitete seine Bewegung. Er wurde sich seines Sitzes auf dem Felsen bewußt, streckte langsam die Beine aus, rutschte herab, bis er taumelnd stand. Alle spürten, daß er nichts von dem wußte, was vorgegangen war. Er sah jetzt, daß Surmelina vor ihm kniete. „Komm“, sagte er, „was tust du hier?“ und half ihr auf die Füße.

„Der Prophet ist durstig“, rief Andruljos, „gib ihm Wein, Kaliope, damit er wieder ein Mensch wird.“ Paride lächelte scheu. „Ich war fort“, sagte er leise, „verzeiht mir, wenn ich jemanden erschreckt habe. Ich gehe jetzt, lebt wohl.“ Er ging mit kurzen kraftlosen Schritten an Kaliopes Cartenzaun vorbei und folgte dem

Steig, der zu seinem Haus führte. Jeder wußte, daß es zwecklos war, ihn zurückzuhalten. Die Geißel vergaß er.

Karamanlis deutete hinter ihm her. „Ich muß euch etwas erzählen. Vorige Woche gehe ich zu ihm, finde ihn im Garten. Er sitzt unter einem Baum und liest sich selbst laut vor. Plötzlich, ich traue meinen Augen nicht, springt er auf, knurrt zornig, küßt das Buch und wirft es über den Zaun ins Gebüsch, daß die Seiten wie ein Spatzenschwarm flatterten. .Was machst du da?' frage ich. .Es hat keinen Sinn, ich habe die Bibel fortgeworfen', antwortete er, .mein Kopf ist zu dumm, ich begreife Gottes geschriebenes Wort nicht mehr. Jetzt werden die Käfer über die Buchstaben klettern, vielleicht verstehen sie mehr davon als ich.' Ich stehe noch da und wundere mich, da packt es ihn, er springt mit einem Satz über den Zaun, wirft sich in das Dornenzeug, holt die Bibel hervor, drückt sie an die Brust, stöhnt und seufzt. . ,Was ist jetzt?' frage ich. ,Der Wolf Hochmut ist noch in mir', jammert er, ,ich bin noch nicht demütig genug.' Und er setzt sich hin, sucht die Stelle, wo er aufgehört hat, liest weiter, und ich bin Luft für ihn.“

„Er wird eines Tages ein Wunder volU bringen“, rief Surmelina, „ich gehe ihm nach.“ — „Ich auch“, sagte Kaliope. Lais nickte Pawlis zu und schloß sich wortlos an, Aspasia und Alope folgten. Hinter den Frauen gingen mit einigem Abstand die Männer, einzeln und paarweise. Im Osten zogen Schönwetterwolken auf.

(Entnommen dem Roman ..Eine Mächtigen Wild“. Woll-zeilen-Verlag, Wien, von Johann A. Boeck.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung