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Die große Lüge des Films

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Die Psychoanalyse, jenes Heilverfahren, durch welches der seelenkundige Arzt durch Erforschung der Erlebnisse und Gedankengänge in der, Vergangenheit des Patienten zunächst den Ausgangspunkt der seelischen Krise festzustellen sucht, um diese dann durch eine dem Kranken nahegelegte Haltung überwinden zu helfen, hat ihren Ursprung in Wien genommen. Um so interessanter wirkt in Wien eine — allerdings durch die Notwendigkeiten des Films sehr schematisch gewordene Darstellung einer solchen Heilung im „Letzten Schleie r“, der Geschichte einer Pianistin, die nadi einem Unfall fürchtet, nicht wieder spielen zu können. Es ist sehr wahr, wenn der Arzt in diesem Film sagt, daß zwar Salome in ihrem Tanz auch den letzten, den siebenten Schleier von ihrem Körper genommen hat, daß man es zwar als selbstverständlich hinnimmt, daß der Chirurg den Körper zur Operation entkleidet, daß aber niemand gerne den letzten Schleier von seiner Seele nimmt, damit die nackte Wahrheit sich offenbart, worin zugleich eine Hauptschwierigkeit .der Psychoanalyse genannt wird. Es ist nun auch kein #Geheimnis, daß nur ein geringer Prozentsatz der Kranken durch die Psychoanalyse Heilung findet. Dies liegt nicht nur an der Schwierigkeit des Verfahrens, welches äußerste Anforderungen an das Können und Verstehen des behandelnden Arztes stellt, sondern wenigstens ebenso sehr daran, daß der Heilungsprozeß meist zu spät einsetzt. Gerade diese Tatsache ist es, durch die unser Augenmerk auf die vorbeugende Behandlung gelenkt werden sollte. Es ist viel richtiger, sich im Leben so zu verhalten, daß seelische Schäden gar nicht erst eintreten können. Wer denkt noch daran, daß wir von Kindheit an gelernt haben sollten, täglich uns Von unserem Tun und unseren Gedanken Rechenschaft zu geben, und nicht nur vor uns selbst, sondern vor einem Menschen, der befugt ist, uns auch wieder auf den rechten Weg zu bringen? Dies ist eines der Fundamente der christlidien Lebensführung. Und hier setzt die Kritik ein an diesem englischen Film, der dem nachdenklichen Kinobesucher als ein interessanter auffallen muß. Die Pianistin mit ihrer verschrobenen Angst ist für den Arzt dieses Films ein Fall, den zu behandeln es sich lohnt: Steht sie doch im Blickfeld der Öffentlichkeit und spielt eine Hauptrolle in dem Leben dreier bedeutender Menschen. Daß es sich wieder einmal um die Sorgen der oberen Zehntausend handelt, muß man nachsichtig hinnehmen, lieben es doch so viele, sidi ein vornehmes und reiches Leben vorspielen zu lassen. Aber warum sieht der Arzt nidit die vielen anderen Fälle, die in diesem Film anklingen und doch schon so alltäglich sind? Eine Frau, die innerhalb einiger Jahre den zweiten Mann geheiratet hat (er ist dumm, aber reich, gibt sie zu verstehen). Da ist der Musiker, der die eine liebt, die andere heiratet und sich wieder scheiden läßt. Da ist die Mutter, die den Mann mit einem Schauspieler betrogen und dadurch die Seele ihres Sohnes vergiftet hat. Dies alles wird mit einer Selbstverständlichkeit erzählt — und hingenommen, als müßte das Leben so schwierig sein, als müßten die Menschen sich das Leben gegenseitig so vergiften.

Ebenso unvernünftig ist die Haltung jenes Mannes, der sich die „K arten des. Schicksals“ aufschlagen läßt, falls er an diese Wahrsagerei wirklich glaubt, was der Kinobesucher annehmen kann. Wie immer es mit der Astrologie und ähnlichem Zauber beschaffen sein mag, eines ist sicher, daß weitaus die Mehrzahl der Leute, die solcherart das Schicksal befragen, in die Hände von Leuten geraten, die diese Künste nicht wirklich beherrschen, denn die wenigsten haben die Gabe des Hellsehens oder eine wirkliche Wissenschaft. Und dennoch lassen sie sich in ihren Entschlüssen von Menschen leiten, die von den Dingen des Schicksals nidits wissen können, weil sie viel zu klein dazu sind. Kein Wunder, daß die Neurosen überhand nehmen und die Psychoanalytiker sich an die Arbeit machen müssen. Menschen, die vergessen, daß jeder der Sdimied seines-Glücks ist, werden zu schwachen Charakteren. Soviel über diese französische Filmreprise, über die weiter nichts zu sagen wäre, hätten nicht ausgezeichnete Schauspieler sich an dieser Geschichte des Kartenaufschlagens beteiligt.

Noch ein — sonst ausgezeichnet aufgemachter und gespielter — englischer Film wirft seine Schatten auf die Unsicherheit, mit der man dem Wahr und Falsch im Leben gegenübertritt: „Lady ohne Her z“. Eine vornehme junge Dame wird Straßenräuber und bringt einige Leute um. Man verlege diese Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts in die Gegenwart — und man wird sich mit Abscheu abwenden. Die romantische Verklärung durch die . historischen Kostüme läßt die Geschichte als erträglich,' vielleicht sogar als interessant, die Herzen packend empfinden. Wieviel Rührung umgibt allein die Figur des männlichen Banditen, der, von der räuberischen Lady verraten, schon am Ga'gen den Strick um den Hals gelegt bekommt und die Verräterin nicht verrät, welcher Edelmut! Weldie Lüge! Und so begegnet man ihr auf Schritt und Tritt in diesen und vielen anderen Filmen — und merkt sie nicht, die große Lüge.

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