6760903-1968_15_19.jpg
Digital In Arbeit

DIE HÖHLE

Werbung
Werbung
Werbung

Bis zu ihrem achten Jahr hatte Ruth auf dem Lande gelebt. Sie erinnerte sich kaum an das feuchte, gelbe Haus, an den düsteren Garten und an die vielen bunten Schnecken, die eine nasse, moosige Mauer bedeckten.

Aber noch immer hätte sie, selbst mit geschlossenen Augen, den Weg gefunden, der von der sonnenweißen Straße zur Höhle führte. Unter einer kleinen Brücke aus Holzprügeln, die über einem ausgetrockneten Bach lag, war die Höhle in die Wiesenböschung gegraben. Ihr Dach bildete die Unterseite der Brücke, von der die langen Schlingen der Waldrebe niederhingen, die auch den großen Haselbusch ganz überwuchert hatten. Ruth mußte die Haselzweige zur Seite biegen, um hindurchschlüpfen zu können. In der Höhle war es warm und trocken. Das alte Laub raschelte leise unter ihren Füßen und ein zarter, bitterer Geruch erfüllte die Dämmerung.

Ruth zog ihre Sandalen und Söckchen aus und grub die nackten Füße ins Laub. Sie streckte die Hand nach den Knospen der Waldrebe aus und strich vorsichtig darüber hin. Die weißgrünen Blüten erinnerten sie an die kleinen Myrtensträußchen die sie auf einer Hochzeit gesehen hatte. Damals war sie noch kleiner gewesen als jetzt und ihr Vater hatte sie in der Kirche auf seine Knie gesetzt, damit sie die schöne Braut auch deutlich sehen könne. Im selben Augenblick hatte die Braut vom Betschemel aufgeblickt, gerade in Ruths Augen. Und Ruth hatte gesehen, daß die Braut weinte. Nasse glitzernde Spuren zogen sich von ihren schwarzen Augen zu den Myrten auf ihrer Brust.

Wenn Ruth nun in ihrer Höhle lag und die Wärme der Erde unter dem Laub spürte, sah sie hinter den weißen Blütenbüscheln, die reglos vor dem Himmel starrten, das Gesicht der schönen Braut. Es gleißte in der silbernen Tränenflut und Ruth wünschte brennend, es an sich zu ziehen, nieder in die dunkle Höhle; fort aus der weißen Sonnenglut.

Sie träumte davon, die Braut mit Laub zu bedecken, ihr Rüschenkleid, die Hände und den Hals, bis nur noch das feuchte Gesicht aus den roten Blättern leuchtete und die dunklen Augen sich schlossen. Dann glaubte sie einen zweiten Atem zu hören. Sie saß steil aufrecht, die Hand aufs Herz gepreßt und lauschte, den eigenen Atem anhaltend, auf das sanfte Aufundabschwellen an ihrem Ohr.

Von dieser Anstrengung wurde sie sehr müde und fiel ins Laub zurück.

Wenn sie erwachte, war es schon dunkel, der fremde Atem war verstummt und die Höhle überschwemmt von der Bitternis der Waldrebe. Ruth spürte einen süßen Geschmack im Mund. Etwas in ihrer Brust bewegte sich und wollte aus ihr heraus, es zappelte wie ein Fisch und zwang sie, atemlos und glücklich zu lachen.

Sie dachte an den nächsten Tag, an das Wegschleichen vom Haus, den eiligen Lauf über die Straße, an das Zurückbiegen der Haselzweige und an die warme, saugende Dämmerung, die sie niederzog ins Laub.

Vierzig Jahre hindurch besuchte sie von Zeit zu Zeit in ihren Träumen die Höhle. Sie sah die weißen Büschel der Waldrebe, roch ihren bitteren Duft und rollte sich zufrieden zur Seite. Und kaum hörbar atmete neben ihr die schlafende Braut.

Ruth war längst verheiratet, Mutter und sogar Großmutter, und ihr Leben unterschied sich in keiner Weise von dem anderer Frauen. Aber sie fühlte sich immer ein wenig außerhalb stehend, so, als könne man ihr, in Wahrheit, nicht viel anhaben. Man konnte ihr Haus verbrennen, ihre Kleider stehlen und sie im Keller frieren lassen, aber immer blieb sie die Besitzerin einer kleinen dämmrigen Höhle.

Am Ende eines langen, trockenen Tages, der sie mit seinen Widerwärtigkeiten ermattet hatte, taten sich für sie die Haselzweige auf, sie fiel mit dem Gesicht auf warmes Laub und tauchte in der schwingenden Stille unter.

Kurze Zeit vor ihrem fünfzigsten Geburtstag ergab es sich, daß sie in jene Gegend kam, in der sie ihre erste Kindheit verbracht hatte.

Sie erkannte das gelbe Haus nicht wieder. Wie im Schlaf stieg sie von der sonnenheißen Straße zur kleinen Brücke nieder. Aber es gab keine Höhle mehr. Der Bach hatte sich in einen betonierten Graben verwandelt und Ruths Höhle war zu einem Abfallplatz für zerbrochenes Geschirr und alte Konservendosen geworden. Überhaupt sah die Gegend aus, als sei ein riesiges Geschöpf mit seiner bösen harten Hand dariiber hingefahren.

Ruth stand im weißen Sonnenlicht und konnte nicht weinen. Die nächsten Tage verbrachte sie in ängstlicher Erregung und versiichte sich dutch Geschäftigkeit zu betäuben. Nachts lag sie schlaflos und las in dicken Büchern, die sie nichts angingen und die sie gar nicht verstand. Bei Tag schien ihr das Licht greller als je zuvor und alle Dinge und Menschen traten ihr ungebfihrlich nahe und zwangen sie dazu, ge- ängstigt die Augen zu schließen.

Eines Vormittags ging sie weg, um Dinge einzukaufen, die sie in Wahrheit gar nicht braučhte, die ihr aber plötzlich sehr notwendig erschienen.

In einer ganz unbekannten Straße land sie sich wieder und bemerkte, daß sie in die Auslage einer Apotheke starrte und eine Reklame las.

Eine Straßenbahn hinter ihrem Riicken kreischte in der Kurve und Ruth flng an zu zittern.

„Bei Schmerzzuständen aller Art .Adolorin” , las sie, und plötzlich war ihr, ein Fahrzeug biege um die Ecke und rase in sie hinein. Schon spiirte sie den brennenden Schmerz im Riickenmark, als die Tiir der Apotheke aufschwang und ein Herr heraustrat. Ruth ging an ihm vorfiber und stand vor einem Marmorpult mit vielen Flaschen, Dosen und Tiegeln.

„Adolorin”, flüsterte sie, „gegen alle Schmerzzustände.”

Der Apotheker lächelte vertraulich und beugte sich fiber des Pult vor. Sie steckte das Päckchen ein, zahlte automa- tisch und begriff, daß man von ihr erwartete, sie werde wieder fortgehen, fort aus der guten, grfinen Dammerung. Aber sie wollte nicht gehen, sie wollte und konnte nicht. Draußen kreischte das große elektrisčhe Tier und die Sonne wartete darauf, sie in die Augen zu stechen.

Jemand sagte: „1st Ihnen nicht gut?” Sie schlučkte zwei Tabletten und trank viel kfihles Wasser. Dann lag sie in einem kleinen Raum auf einem braunen Wachstuchsofa und war allein. Auch hier war grfine Dammerung. Sie sah vor sich ein Regal mit Gläsern und Porzellantiegeln, auf denen lateindsdie Namen standen.

In diesen weißen Behältern stak der Tod, hundert ver- schiedene Tode, deren Namen schwarz und exakt auf das weiße Porzellan gepinselt waren.

Ein Löffelchen davon stärkte das Leben, zehn Löffelchen verwandelten es in den Tod. Es gab keine Grenze, nur Übergänge. Das Leben konnte nicht wirklich enden und der Tod wuchs sčhon im Keimling.

Ruth rollte sich auf dem Wachtsuch zusammen und spiirte, wie die Wärme der Medizin sie durchdrang. Der dunkle, angsterstarrte Klumpen in ihrer Brust schmolz und strömte in eiligen roten Wellen durdi sie bin.

Mfihsam öffnete sie noch einmal die Augen und sah, halb- betäubt vor Mfidigkeit, das leuchtende, tränennasse Gesicht der schönen Braut aus einem der weißen Behälter aufsteigen. Sie sah die dunklen Augen auf sich geričhtet und glaubte, die Arme danach auszustrecken, während sie bewegungslos lag. Süß war der Triumph, zu wissen, daß die Höhle wieder- gekommen war. Aus zwei weißen Tabletten war sie auf- erstanden und zog sie tief in sich hinein.

Gleich darauf raschelte das alte Laub an ihrer Seite, der zarte, bittere Duft der Waldrebe senkte sich auf Ruth, und die sanften Atemzfige der sčhonen Braut berührten ihre Schläfe.

Aus den im Bergland-Verlag erschienenen zwanzig Erzählungen, mit dem Titel „Die Vergißmeinnichtquelle’.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung