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Die Saat der Gewalt

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Seit einiger Zeit lesen wir tagtäglich von jugendlichen Rechtsbrechern, die ein ganz neuer Typus, eine ausgesprochene Zeiterscheinung sind — die „Halbstarken“.

Der Film „Der Wilde“, der die Geschichte einer motorisierten Bande erzählte, schenkte ihnen die uniforme Bekleidung, Lederjacke und eine schmalrändrige Samtmütze. Zwischen 14 und 21 Jahre alt, tauchen sie nur in Gruppen auf, stehen an den Ecken, pöbeln Leute an, besitzen ein sehr knappes und primitives Idiom und brausen auf Motorrädern durch die Straßen wie ehedem durch die Kinderstube. Durchweg aber sind sie von einer erschreckenden Be-denkenlosigkeit des Lebensgenusses. Wären diese „Halbstarken“ nur Produkt der verlängerten Flegeljahre, so könnte man ganz ohne Sorge sein. Nein, es ist nicht der Sturm und Drang der erwachten Kräfte, der zur Auseinandersetzung mit dem Ich und der Umgebung drängt. Kriminelle Instinkte, die in hohem Maße zum Verbrechen treiben, werden hier wach und alarmieren die Bevölkerung. Allenthalben werden schon kritische Stimmen laut. „Sind wir jugendlichen Banden völlig ausgeliefert? Müssen wir um unser Eigentum fürchten? Gibt es keine ausreichenden Maßnahmen? Woher kommen die „Halbstarken“ und was sind die Ursachen?

Vorweggenommen sei, daß ihr tatsächlicher Anteil an unserer Jugend gering ist (über 40 Prozent der Teilnehmer an Volkshochschulkursen und Bildungszirkeln sind Jugendliche), aber da der „Lebensraum“ der Rowdies die Straße ist, entsteht der Eindruck einer höheren Zahl. Die „Halbstarken“ sind keine hur auf unser Land und die Großstadt beschränkte Erscheinung. Amerika hat seine „Gangs“, England die „Teddy Boys“, Hamburg die „Zazous“, München „Stenzen“ und Berlin, von wo dieser Terminus kam, eben die „Halbstarken“. In allen diesen Städten hat man ernsthaft über dieses Problem diskutiert. Angesichts der letzten schweren, in unserer Stadt begangenen Verbrechen ist es an der Zeit, auch hier ernstlich einzugreifen. Freilich hat man schon seit längerem sorgenvoll die Verwilderung eines Teiles der Jugend beobachtet und auch die soziologischen und psychologischen Wurzeln zu erfassen versucht.

Was heute geschehe, sei nichts anderes als die Reaktion auf die Partei- und Staatsjugend vergangener Jahre. Was sie so nivelliere, sei das Diktat der Ausdruckskraft, also des Umgangstones. Ein berühmter Psychiater spricht von der Prägekraft der Technik und der Konzentration der Zeit, aus der das geraffte Erlebnis resultiere, eben Oberflächlichkeit und Leere. Durch die Reizüberflutung der besonders anfälligen Jugend entstehe eine aggressive Aufbruchsbereitschaft, die sich z. B. in Gewalttaten Luft schafft. (Eine technische Panne, wie sie in Hamburg bei einem Jazzkonzert passierte, verursachte unter den Jugendlichen einen geistigen Kurzschluß, und die Vorführhalle ging in Trümmer.) Ein bekannter Psychologe zählt den grausamen, sadistischen Film zu den stärksten Einflüssen auf die ohnehin labile Psyche der Halbwüchsigen. Und wie ein Echo kommt es aus dem Mund des Soziologen, wenn er sagt, „das Kino ist der Kultraum des leeren Ich-Bewußtseins“. Ein alter, im Justizdienst ergrauter Richter aber meint kopfschüttelnd: „Die Jugend von heute weiß nicht, was sie mit der Freizeit anfangen soll!“ Ein wahres Wort.

Die „Halbstarken“ sind also eine komplexe Erscheinung. Und die Eltern, sind nicht sie die erste, maßgeblichste Instanz? Es ist kein Zufall, daß die jungen Rechtsbrecher meist nur ein loses Verhältnis mit den Eltern gekannt hatten. Weil ihnen das Zuhause eben nichts bot, gingen sie auf die Straße, ins Kino, ins zweifelhafte Lokal, weil da „eben was los ist“. Zuständige. Stellen befürchten ein Ansteigen der Zahl der „Halbstarken“ und damit der Jugendkriminalität, da jetzt die Jahrgänge 1942 bis 1945 heranwachsen, deren Väter gefallen sind und deren zumeist berufstätige Mütter ihrer nicht mehr Herr werden. Erschütternd war der Hilferuf einer Mutter an eine Wiener Zeitung. Er sagte mehr als trockene Erhebungen. Selbst bei den intakten Ehen offenbart sich eine verhängnisvolle Krise der väterlichen Autorität. Gertrud von le Fort, eine der geistvollsten Frauen unserer Zeit, sprach auch von dem „Einbruch nicht mehr christlicher Grundsätze, Maßstäbe und Vorstellungen in die Welt der Frau“.

Und die „Halbstarken“ selbst? Sie sind meist eine Fortsetzung früher Schulfreundschaften, gepaart mit einer Flucht ins Kollektiv aus Angst — vor dem Alleinsein. In der Tat ist die Jugend einsam. Ihr fehlt der Rückhalt der irrationalen Reserven, also Religion und Moral, so daß jede Enttäuschung, die sie in der industrialisierten technischen Welt erlebt, sie sofort dem absoluten Nichts in die Augen sehen läßt. Diesen Zustand fördert die Verlagerung des kulturellen Interesses von schöngeistigen auf reale Probleme. Da ihr geistiges Erbe überaus dürftig ist, steht ihr Herz der durch Schundliteratur und Gangsterfilm angebotenen Häufung von Naivität und Verlogenheit hemmungslos offen. Aber auch der Boulevardpresse kommt ein gerütteltes Maß an Schuld zu. Sie, deren oft jede Autorität, jedes sittliche Gefühl untergrabende und triebhafte Begierde steigernde Berichte tagtäglich in die kritiklosen, aufnahmebereiten Massen geschleudert werden.

Die kriminell gewordenen „Halbstarken“ waren, hier stimmen die Ergebnisse polizeilicher Feststellungen in geradezu auffallendem Maße überein, ausnahmslos Lehrlinge und Jungarbeiter. — Mittelschüler oder Studenten fanden sich nicht darunter. Eine trockene Feststellung ohne sozialkritischen Gehalt, weil es aber-tausende braver Lehrlinge gibt. Tatsache ist: Nicht Not macht hier zum Rechtsbrecher, sondern Sattheit, Dummheit und soziale Fehlhaltung.

Eine andere Erfahrungstatsache besagt, daß die Gruppe, die Bande, eine deprimierende Prozession verlegener Mittelmäßigkeit, gerade die Neigung zu Gewalttaten bestärkt, allein seien diese Jugendlichen ausgesprochen feige, ja hilflos. Bei einem Verhör, so berichtete ein Münchner Polizeibeamter, schwiegen alle aus falschem Korpsgeist. Als aber einer pfiff, folgten alle anderen im Herdentrieb. Genau das gleiche geht aus einem Wiener Bericht hervor. Ueber-einstimmend wird auch die Existenz eines „Leithammels“, eines Anführers, bestätigt, von ihm hängt sozusagen die Spannweite der von Einbruch bis Notzucht, sogar Mord reichenden Verbrechen ab.

Was ist zu tun? „Wir haben ausreichende Gesetze“, sagt ein Strafverteidiger, „hart durchgreifen“, meint der Polizeioffizier, den Erziehungswillen der Eltern will der Psychologe stärken. „Sich um den einzelnen .Halbstarken' annehmen, ihn herausreißen“, rät ein Soziologe, der die verhängnisvolle Umweltverhaftung als wesentliches Moment sieht. Aber man hüte sich vor organisierter „Freizeitgestaltung“ (diesem ohnehin gräßlichen Wort), vor effektlosen Diskussionen und „Abenden mit Volksliedern“ — das sind lyrische Phantastereien, nichts weiter. Da gibt schon der Rat eines erfahrenen Lehrers einer Berufsschule zu denken: „Einfach rigoros Schundfilme verbieten.“ Jeder Einwand enthält Wahrheit. Beim einzelnen beginnen, ehe er zum Rechtsbrecher und durch die Strafe gebrandmarkt wird, aber auch sich klar werden, daß der, der den Rechtsfrieden mit Gewalt stört, sich nicht beklagen darf, wenn ihm gegenüber Gewalt als Recht proklamiert wird. Das sollte man bedenken.

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