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Englands „traurige Sonntage”

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Zum Teil kann man die Halbwüchsigen verstehen; es gibt wirklich kaum etwas Langweiligeres als ein englisches Wochenende. Gehört man nicht zu den Glückspilzen, die unter ihren Freunden solche mit Wochenendhäusern oder kleinen Landsitzen haben, kann man in London (oder in einer anderen Großstadt) nur von einem Kino in das andere gehen oder in den verschiedenen Cafeterias auf andere Weise sein Geld ausgeben. Fußballmatches oder andere sportliche Veranstaltungen gibt es am Sonntag nicht, weil dadurch „die heilige Sonntagsruhe” gestört würde. Über ihre Einhaltung wacht eine eigene Gesellschaft zur Wahrung der Sonntagsruhe. Ich jedenfalls fühlte mit den Burschen und Mädchen, die seufzend meinten, daß die Wochenenden soo lang wären. Vielleicht erklären sich die Tumultszenen von Hastings und anderen Seebädern, in denen Scharen von Halbwüchsigen die Erwachsenen, vielfach ältliche Personen, belästigten und so lange johlten, bis ihnen der Strand gehörte, aus dieser strengen Sonntagsruhe, weil die Revolte nichts anderes -als eine-. Folge dess . unbewußt vorhandenen Haßgefühle gegen die ältere Generation war, der ‘die Schuld an ‘diesem iZustawd •zugeschoben wird. Die englischen Psychologen haben sich hierzu noch nicht geäußert, weil sie den „englischen Sonntag” als völlig normal empfinden.

Von namhaften Erziehungsexperten wird als eine der Hauptursachen der Ausschreitungen der Halbwüch sigen das bestehende Erziehungssystem angeführt. Es lege viel zuwenig Nachdruck darauf, das selbstverantwortliche Denken und Handeln der jungen Menschen zu entwickeln. Die große Masse der Jugendlichen brauche Ziele, wofür sie ihre in Überfluß vorhandenen Energien einsetzen könne, benötige Idole, die sie nachahmen kann. Die Jugend fühle sich in einer völlig entideologisierten Umwelt, wie es Sie in England zum Teil gibt, nicht besonders wohl, meint ein jüngerer Jugendpsychologe. (Diese Ansicht wird von Psychologen als unbewiesen und vorläufig unbeweisbar heftig kritisiert.) „Drängen sich in ihrer Umgebung keine natürlichen und sittlich-menschlichen Idole auf, ; dann sucht sie sich eben welche, wie zum Beispiel gegenwärtig die .Beatles1.”

Der Beatles-Kult

Wer in einer Betrachtung der englischen Jugend sich auf die Erscheinung der Mods und Rockers beschränkt, würde tatsächlich ein einseitiges Bild bieten. Die englische Jugend, im weitesten Sinn die englische Gesellschaft überhaupt, bildet ein viel allgemeineres und vielschichtigeres Problem als die Mods und Rockers zunächst ahnen lassen. Die Beatles sind nämlich nicht nur den Halbstarken ein Idol, sondern auch den Mittelschülern und sogar den jungen Studenten. Als die vier „Schwammerlköpfe” vor einiger Zeit in Liverpool, ihrer Geburtsstadt, ein Konzert gaben, bildeten die Halbwüchsige eine Schlange von einer Meile Länge, warteten mehr als 12.000 Burschen und Mädchen eine Nacht lang auf eine Karte. Besorgte Eltern fuhren mit ihren Autos die Schlange nach dem Sprößling suchend ab, und fanden sie ihn oder sie, reichte die besorgte Mutter heißen Tee aus der Thermosflasche. Die Kinder nach Hause zu beordern wäre völlig zwecklos gewesen und hätte nur den Ausbruch einer Massenhysterie bewirkt. Die kam zwölf Stunden später, während des „Konzertes”, ohnehin, in dem die Jugendlichen, förmlich in einer Ekstase, die Einrichtung demolierten. Augenzeugenberichten zufolge stammte ein erheblicher Teil dieser 12.000 Jugendlichen aus typischem Mittelklassenmilieu, den wohlhabenden Familien der Vorstädte. Wer als Lehrer es etwa wagen sollte, gegen den Beatles-Kult aufzutreten, hat sofort alle Sympathien verloren. Wie ein Psychologe in einer Rundfunkdebatte erklärte, müsse den Fachlexika eine neue Geisteskrankheit, ein neues Stichwort hinzugefügt werden: Beatlemania.

Zurück zu Elisabeth I.

Mods und Rockers und die Beatlemania scheinen nur anzuzeigen, daß die englische Gesellschaft in einer auf wenige Jahre zusammengedrückten Zeitspanne mit Macht aus dem viktorianischen Glassturz ausbricht. Die viktorianischen Verhaltensnormen sind der Vitalität des englischen Volkes nämlich künstlich aufgeprägt worden. Gerade im Shakespeare-Jahr wird es bewußt, wenn man das elisabetha- nische mit dem viktorianischen England vergleicht. Die Stimmen mehren sich deshalb, welche die Auswüchse der Halbwüchsigen damit erklären, daß der vitale Kern des Elisabethanischen wieder zum Vorschein komme. „Jahrhunderte lang hielt England an einem korrekten, verhaltenen Lebensstil fest; jetzt sprengt es seine Fessel. Un f-r, hüllte Sexualität, Unterhaltungen ohne Tabus und der Wunsch, V;pr- | säumtes nachzuholen, nehmen 7.\Xt Die Beatles kamen gerade zur rechten Zeit, um diesen Prozeß zu beschleunigen” (Vance Packard).

Suche nach einer Aufgabe

Einsichtige Kreise hoffen daher hier in London, daß der Plan Mr. Anthony Steeles, einen National Youth Service zu gründen, sich mit Erfolg verwirklichen lasse. Seit fünf Jahren arbeitet Mr. Steele an seiner Idee, das Problem der alten und einsamen Leute mit dem Wunsch der Jugendlichen nach einer echten Aufgabe zu verbinden. Ohne staatliche Hilfe baute er eine Bewegung mit 2000 Jugendlichen auf, die in 15 Londoner Bezirken regelmäßig für die Pensionisten und Rentner arbeiten. Dae Regierung anerkannte den Wert der Bestrebung Mr. Steeles und versprach vor kurzem eine Subvention von 3000 Pfund. Der erzielte, gewiß noch bescheidene Erfolg scheint jenen Psychologen und Pädagogen jedenfalls recht zu geben, die sagen, daß die gegenwärtigen Jugendtumulte sofort verschwänden, wenn man der Jugend eine echte Aufgabe in der Gesellschaft stellt und die Erwachsenen ihre Sucht nach materiellen Gütern bekämpften. „Jedenfalls”, meinten viele Kommentatoren, „ist die Sache wert, ausprobiert zu werden”, und die „Sunday Times” überschrieb einen Bericht mit dem Titel: „Mods mit dem Verlangen, Menschen zu helfen”. Beatlemania könnte vielleicht nur ein Stichwort in einem Lexikon bleiben und nicht der Ausdruck, mit dem die sinnlose Leere der jugendlichen Existenz in der modernen Gesellschaft bezeichnet wird.

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