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Die Sorgen des Tages

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Welches sind nun die Grundelemente dieser Jugend, die im Heiligen Jahre 1950 die weiten Bogen des Petersplatzes in Rom füllte, jener Jugend, der man von den Küsten Spaniens bis in die zerstörten Großstädte der Ruhr begegnen konnte, auf allen Landstraßen des Kontinents, auf den verschiedensten Kongressen und in nächtlichen Gesprächen? Alle diese jungen Akademiker und Arbeiter, Exilierte und Entwurzelte, sie sind Pfadfinder einer neuen Gegenwart. Aber verbindet sie etwas Gemeinsames, das mehr ist als das hilflose Gefühl, vor einer alles bedrohenden Woge zu stehen und im Spiele unkontrollierbarer Gewalten Existenz und Leben zu verlieren?

Ein Großteil von ihnen will aus dem Kreis des bisherigen Lebens ausbrechen. Sie fütilen deutlich, daß die Art ihres Daseins und Denkens mit der ihrer Eltern nicht mehr übereinstimmt. Damit erklärt sich das Fernweh, die Sucht des Wan-derns, der Wille, die Grenzen zu überschreiten.

Allen jedoch gemeinsam ist die Not. Unter dem ständigen Druck materieller Sorgen sucht der Student seine Fachausbildung zu erlangen, die ihm gestattet, so schnell als möglich sein Brot ru gewinnen. Ein darüber hinausgehendes allgemeines Studium wird aus Zeitgründen meistens vermieden. Die universelle Aufgabe der Hochschulen, die Verbindung von Lehr- und Lembetrieb, ging damit verloren, und es ist nicht übertrieben, wenn man von einer schweren Krise der europäischen Universitäten spricht. Die wichtigsten Fragen, die einen jungen Beamten, einen Arbeiter bewegen, drehen sie sich nicht alle um Löhne und Preise und um die reelle Kaufkraft? Von einem sicheren Erwerb, einer Existenz kann keine Rede mehr sein. Wer berufsmäßig Einblick in die sozialen Verhältnisse der europäischen Jugend hat, wird über all die Schwierigkeiten erschrocken sein, die sich der Gründung eines eigenen Hausstandes entgegenstemmen. Die in allen europäischen Ländern zu verzeichnende Wohnungsnot bedroht in stärkster Weise, die Grundlage jedes Staates, die Familie. In einer Stadt wie Paris, die keine Kriegsschäden aufzuweisen hat, sind nach amtlichen Meldungen über 2 5.0 0 0 junge Ehepaare ohne Wohnungen: in Wirklichkeit dürften es mehr als 100.000 sein. Sie wohnen in Hotels, bei den Schwiegereltern, in Dachzimmern. Unnötig, die Statistiken der Deutschen Bundesrepublik in Erinnerung zu bringen oder die sich durch einen immer vermehrenden Bevölkerungsüberdruck verschärften Verhältnisse in Italien zu erwähnen. Diese materielle Unsicherheit zerstört den Begriff des Heimes und der Familie. An Stelle der Ehe tritt das Verhältnis, an Stelle der Familie das Abenteuer.

All diese Feststellungen sozialer Natur unterstreichen jedoch nur die Unruhe, die in der europäischen Jugend herrscht. Werte, wie Vaterland und Nation, erscheinen für nicht wenige bedingt, und diesen Elemente der Jugend tritt eine Neukonzeption nahe und lockt durch ihre Verheißung und ihre Dynamik im Kommunismus. Darf es wundernehmen, daß ein Teil der europäischen Jugend von dieser Bewegung gefangengenommen wird? Sie lockt sie mit der Parole Arbeit, Gerechtigkeit und Frieden. Die westliche Welt dagegen sei erfüllt von Aufrüstungsgesprächen, Militärpakten und Generalstäben.

Immer gab es Gegensätze zwischen zwei Generationen! jedes Zeitalter muß sich damit auseinandersetzen. Nur blieb der kontinuierliche Übergang bewahrt, während die Jugend unserer Tage oft mit Skepsis und Zurückhaltung dem öffentlichen Leben zusieht. Die oft nur zu deutliche Reserve der Jugend, die sogar zur vollständigen Apathie führen kann, sobald es um politische Belange geht, läßt sich aus diesen Motiven heraus deuten. Die Älteren dagegen betrachten mit Mißtrauen eine Jugend, die immer nur zu begehren scheint und bisher noch keine konstruktive Leistung aufzeigen konnte. Sie wollen nicht verstehen, daß die Jugend mit den Schlagworten der Parteien und Gruppen nichts mehr anzufangen weiß. Ohne Zweifel fühlt' die Jugend, daß hinter den Worten die Substanz mangelt.

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