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Ein Abriß der russischen Geschichte

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Hier wurde der Versuch gemacht, die russische Sphinx aus dem angewehten Wüstensand täglicher Meinungen ein wenig herauszugraben; die Sphinx bleibt, doch werden ihre Umrisse besser erkennbar. Was Frankreich, was England in der europäischen Geschichte bedeuten, weiß jeder, und man rechnet mit ihnen wie mit bekannten Größen. Bei den Deutschen beginnt die Frage, was sie eigentlich sind, bereits problematisch zu werden — und bei Rußland erst! Da zerbrechen sich die Westeuropäer bereits jahrhundertelang den Kopf, und besonders heute, wo es ja um ihren Kopf geht. Das Sonderbare jedoch ist, daß sich auch die Russen selber über ihr Wesen und ihre Bestimmung durchaus nicht klar ßindj mehr noch: die ganze russische Geistesentwicklung seit 250 Jahren kreiste ßtändig um die eine Frage „Rußland — was ist das?“

Das Buch stellt einen ausgezeichneten Abriß der russischen Geschichte von Rurik bi6 Peter dem Großen (inklusive) vor, und darum i6t seit Titel „Rußland“ ein wenig irreführend, denn vom 19. Jahrhundert, welches ja doch Rußlands großes Jahrhundert war, ist kaum die Rede. Dennoch ist das Buch hervorragend, weil es, bei historischer Treue und Plastik, die gleichbleibenden Tendenzen des russischen Geschehens so klar heraushebt, daß deren Nutzanwendung auf das heutige Rußland 6ich in der Phantasie des Lesers von selbst vollzieht. Meisterhaft ist zum Beispiel die Schilderung Iwans des Schrecklichen, weil der Sinn hinter den Unsinnigkeiten dieses Wüterichs so überzeugend aufgewiesen wird, daß man sich nicht mehr wundert, wenn Peter der Große ihn auf einer Ehrenpforte als seinen Vorgänger erklärt. Die Moskauer Zaren übernahmen, noch vor der byzantinischen Herrschervorstellung, die mongolisch-tatarische, nämlich daß der Untertan mit Körper und Besitz seinem Kaiser gehört. Und andererseits erfahren wir, daß es einen staatskapitalistischen, monopolistischen Außenhandel bereits im Moskowiterreich des 17. Jahrhunderts gegeben hat. Beim Lesen dieses Buche6 fällt einem wieder auf, wie unglückserfüllt die russische Geschichte gewesen ist: eine ständige Notzeit, voll „Schweiß, Blut und Tränen“. Nun hat ja die Geschichtschronik mit der Lokalchronik der Zeitungen das gemeinsam, daß fast nur die Unglücksfälle registriert werden, während das Glück unverzeichnet bleibt: es 6ind um-

gekehrte Sonnenunhren, wo nur die Schattenstunden zählen. Welche historischen Zeiten 6ind für die Menschen die glücklichsten? Wohl auch die Zeiten, wo „nichts passiert“, mehr aber noch die Zeiten des Aufbaues mit neuen Zielen, wo eine begeisterte Energie die Menschen ergreift: die Zeit nach den Perserkriegen, die augusteische Zeit nach dem Bürgerkrieg, die erste Hälfte der Regierung Ludwigs des XIV. nach den Frondekriegen usw. Leider geht es aber mit diesem Aufbau wie so oft mit dem Bau eines Hauses: e6 kostet viel mehr, als man gedacht hat, und man 6teckt unter Dach, doch bis über den Kopf voller Schulden. Die ersten 6echs Regierungsjahre Neros waren die glücklichsten, die Rom je erlebt hatte: die ersten acht Jahre unter Iwan dem Schrecklichen waren eine Zeit der Siege und Reformen: die ersten zehn Jahre unter Boris Godunow waren eine glückliche Zeit. Zu solchen kurzen, hoffnungsvollen Zeiten aus der jüngsten Vergangenheit wären vielleicht zu rechnen: das Jahrfünft der Weimarer Republik von Einführung der Rentenmark (1924) bis zum Wirtschaft6krach; ja sogar die ersten fünf Hitlerjahre, obwohl diese ja tief unmoralisch waren und die kommende Katastrophe großzogen. Wer aufbaut, wer „plant“, i6t immer glücklich. Die Frage ist nur, w i e viele in einer solchen Reformzeit wirklich mit Leib und Seele mitarbeiten? Und dann, und vor allem natürlich, ob die gestellten Ziele die Arbeit wert sind. So kann man die Reformzeit Peters des Großen als eine Zeit des Grauens oder Lichtbringens betrachten, je nachdem, ob man mit.plante“ oder bloß Objekt der Planung war. Bei Peters Reform waren die Mittel oft grauenhaft, doch die Ziele waren richtig — wie die Geschichte bewies. (Damit soll keineswegs „Der Zweck heiligt die Mittel“ verteidigt werden.) Nun war es aber das Unglück Rußlands, daß die Reformen meist von außen und immer von oben kamen, das heißt daß eine dünne glückliche Planerschicht es mit einer Riesenschicht unglücklicher Planung6objekte zu tun hatte — 60 daß gerade die in Westeuropa oft glücklichen Aufbauzeiten in Rußland zu Zeiten fürchterlichsten „Reformwütens“ wurden. —

Das Buch Michael Prawdins ist spannend geschrieben und enthält ein wertvolles bibliographisches Verzeichnis.

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