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Ein ganz gewöhnliches Lager

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Zu den dunkelsten Kapiteln unserer unbewältig-ten Vergangenheit gehört das teils bewußte, teils verschämte Schweigen über die Konzentrationslager des „Dritten Reiches“. Das Bemühen um klare Stellungnahme und Verarbeitung jener furchtbaren Geschehnisse steht nicht gerade hoch im Kurs, müßte sie doch Bekenntnis und Reue nach sich ziehen, die viele Menschen scheuen. Verdrängte Komplexe sind aber gefährlich. Jüngst bewiesen ja gerade wieder die antisemitischen Schmierereien, wie leicht eine verschwiegene Vergangenheit zur aktuellen Gefahr für die Gegenwart werden kann.

Zudem hat das, was in den nationalsozialistischen Schreckenslagern geschah, Parallelen auch anderswo in der Welt. „Zuerst haben wir von den Lagern in Sibirien gehört, dann von den .Centres de triage' und den Gefängnissen in Algerien. Wir haben Berichte über die Folterungen gelesen und wir wissen, daß sich Russen und Franzosen der gleichen Verbrechen wie die Nazideutschen schuldig machen können ...“, schreibt Micheline Maurel im Vorwort der deutschen Ausgabe ihres Berichtes über das Frauenlager in Neubrandenburg, in dem sie zwanzig Monate verbrachte, bis die Häftlinge 1945 von den Russen befreit wurden. „Will man verhindern, daß das alles nicht wieder auflebt, heißt es wachsam sein, jeden Fall einer Folterung anprangern, sich zum Widerstand gegen die Regierung, welche Form sie auch habe, stark machen ...“, lesen wir weiter in dem erwähnten Vorwort.

Dies also ist das Anliegen, das Micheline Maurel bewog, nach vielen Jahren des Schweigens ihr Buch über jenes „ganz gewöhnliche Lager“ (der Titel der französischen Ausgabe ist „Un Camp tres ordinaire“) zu schreiben — ein Lager ohne Gaskammern und Verbrennungsöfen:

„Es benützte die Einrichtungen von Ravens-brück . .. Die Kranken und die Arbeitsunfähigen mußten als Todeskandidaten nach Ravensbrück zurück. Die Toten auch. In den gleichen Lastwagen ...“

Und es waren nicht wenige Tote und Sterbende, die diesen Weg gingen. Denn das Elend in Neubrandenburg war unvorstellbar: der Hunger, der Mangel an den primitivsten Dingen, die ein Mensch zum Leben braucht, die Hoffnungslosigkeit ...

Micheline Maurel berichtet nüchtern und ohne Haß von diesem Dasein; aus einer sehr menschlichen Perspektive, die auch gegenüber den Peinigern und

Schinder nicht aufgegeben wird. D.is Erschütterndste an ihrem Buch sind die kleinen gegenseitigen Hilfen, die manchmal über Leben und Tod entscheiden, ist das mühsam gepflegte Fünkchen Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit, der Protest der Seele gegen die Unmenschlichkeit.

Wie bewegend ist der in dem Kapitel „Chansons und Gedichte“ geschilderte Versuch, Tröstung in der Kunst zu finden, wie sich überhaupt an vielen Stellen zeigt, daß die geistigen Kräfte in den Schreckenslagern zur wesentlichen Voraussetzung des Überstehens werden.

Der letzte Abschnitt des Buches trägt den Titel Werden sie vergessen seui?“. Diese Frage gilt jedem einzelnen von uns und zeigt, wo unsere Aufgabe beginnt. Sie dürfen nicht vergessen sein, nicht die Lager und nicht die Opfer, weder die Toten noch die Davongekommenen, deren Leben für immer beschattet bleibt von der Erinnerung an die unsäglichen Qualen der Vergangenheit. Wir müssen uns diesen Dingen ohne Vorbehalt und ohne Beschönigung stellen, denn: „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ (Brecht). Und von der ehrlichen Verarbeitung der Vergangenheit wird das Gesicht unserer Zukunft abhängen.

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