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Ein Nobelpreistger ist ein Mensch

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Vor wenigen Wochen haben sechs junge tschechische Studenten, betreut vom Wiener Büro des ICEM (Intergovernmental Committee for European Migration), die Reise von Wien nach Belgien angetreten, um dort im Rahmen einer Stipendienaktion zu studieren.Eine kleine Gruppe, unauffällig der Zahl wie dem Gewicht nach; aber Teilnehmer einer Aktion, derentwegen sich eün Friedensnobelpreisträger zweimal für mehrere Tage nach Wien bemüht hat, derentwegen er stundenlange Interviews mit Studenten und Studentinnen aus der CSSR abgehalten und sich sehr eingehend mit der Person jedes einzelnen Werbers befaßt hat, bis dann die Zahl zwanzig — so viele geeignete Interessenten ergaben sich schließlich fürs erste — erreicht war.

Die Relation des persönlichen Einsatzes zum zahlenmäßigen Effekt, die im Zeitalter der Großorganisationen frappiert, ist charakteristisch für Pere Dominique Georges Pire. Man erhält dafür eine sehr simple Erklärung von ihm: „Ein Nobelpreisträger ist ein Mensch. Jemand, der Probleme hat, etwa weil er im Ausland studieren will, aber nicht als Flüchtling im Sinne der zwischenstaatlichen Konventionen zählt, ist auch ein Mensch. Also ist es das selbstverständlichste Ding der Welt, daß diese beiden Menschen einander treffen und miteinander reden, um einen Ausweg zu finden.“ Wobei das persönliche Engagement in der Detailarbeit nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß der Initiator der „Friedensdörfer“ in Europa, der „Inseln des Friedens“ in Indien und Pakistan und der Großaktion „Europa der Herzen“ eines der erfolgreichsten Organisationstadente der Gegenwart ist. Anders wäre es überhaupt nicht möglich, daß zu alldem Genannten noch die Betreuung von rund 18.000 Flüchtlingen, meist alten Leuten, Patenschaften über Siedlungen in afrikanischen Notgebieten und die Führung der eigenen Friedensuniversität in der belgischen Stadt Huy kommt. Georges Pire — Pere Dominique — ist Dominikaner. Seit seinem Eintritt am 14. September 1928. Moralphilosophie und Soziologie waren seine Studienfächer in Rom und Löwen, waren auch die Gegenstände, die er an der Ordensschule von La Sarte-Huy unterrichtete. Er schien für die wissenschaftliche Karriere prädestiniert; es gab auch Leute, die ihm — nicht zuletzt dank der Be-fassung mit der modernen Soziologie die Eignung zum Vorkämpfer dieser oder jener Modernisierungsbestrebungen in der Kirche bescheinigten. Heute ist Pater Pire Diskussionen über innerkirchliche Fragen eher abgeneigt: „Meine Sache ist die praktische Nächstenliebe, die unmittelbare Brüderlichkeit. Die große theologische Diskussion muß dabei zu kurz kommen.“ Irgendwie tut es wohl, einen weltanerkannten Priester zu sehen, den man ganz einfach nicht in das Schema „progressiv oder konservativ“ pressen kann. Der Dialog mit dem Andersgläubigen steht nicht im Widerspruch zu einem fast naiv anmutenden Bekenntnis: „Ich danke alles dem schlichten Glauben meiner Mutter“; die Vorliebe für den Zivil-anzug hat praktische Grunde.

Pater Pire ist nicht zufriden mit konkreten guten Taten. Ihm geht es im wahrsten Sinne des Wortes um das Ganze, um den Frieden in der Welt. Dafür kämpft er, der realistischste Idealist, der sich nur denken läßt. Er respektiert jede Demonstration gegen den Krieg, jede Wehrdienstverweigerung — aber er steht nicht an, zu sagen, daß er die Forderung nach einseitiger Abrüstung für unver-. nünftig, eine Verwirklichung solcher Vorstellungen für gefährlich hält. Im übrigen geht er nicht von der Vorstellung des Friedens als eines krieglosen Zustandes der Menschheit aus, sondern sieht in ihm das Ergebnis einer geistigen Einstellung, zu der zu erziehen er schrittweise für mög-< lieh hält. Ausgehend von der persönlichen Erfahrung, daß er nicht „die Flüchtlinge“, „die Notleidenden“, „die Menschheit“ lieben könne, sondern ganz bestimmte einzelne Menschen. „Man kann nicht für die Menschen, sondern immer nur für jeweils einen Menschen arbeiten, sonst würde wenig Gutes daraus werden“, sagt er. Das unterscheidet ihn von den „Managern der Nächstenliebe“, die vielleicht kurzfristig eindrucksvollere Ergebnisse vorzuweisen vermögen. Manchmal wirkt der große sanfte Mann, der Humor hat und Humor an anderen besonders schätzt, tatsächlich naiv. Sekunden später ist er Realist mit sehr konkreter Kenntnis der Welt, auch der politischen Welt. Als junger Seelsorger der belgischen Widerstandsbewegung nach dem deutschen Einmarsch engagierte er sich sehr direkt auch in politischer Hinsicht. Als „Vater der Heimatlosen“ handelt er nicht im Auftrag einer Partei, eines Staates oder einer Gruppe; er handelt nicht einmal „im Auftrag der Kirche“, dennoch bewußt als Priester. Obwohl — oder gerade weil — seine Dörfer in Asien, seine Hilfswerke in Afrika keinerlei Missionsanstalten sind. Er hat auch in Wien keinen seiner jungen tschechischen Gesprächspartner gefragt, ob er Kommunist sei. „Wenn unter meinen Stipendiaten ein solcher ist — glauben Sie, daß es ihm schaden wird, beispielsweise zu sehen, wie an meiner Friedensuniversität gearbeitet wird oder auch, wie ganz normale christliche Familien in meinem Heimatland leben?“ Kein Zweifel — so ernst der dahinterstehende Gedankengang ist, so unübersehbar blitzt der Schalk dem Pater aus den Augen. Genau wie beim Abschied, als ihm plötzlich einfällt: „Man soll nichts auf der Welt zu ernst nehmen, ausgenommen das Leid und die Sorgen anderer Leute, doch eingeschlossen die eigene Person. Letzteres ist doch auch die Wiener Attitüde?“

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