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Endstation Wirklichkeit

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Kimmerische Fahrt. Von Werner Warsinsky. Büchergilde Gutenberg, Wien. 286 Seiten

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Kimmerische Fahrt. Von Werner Warsinsky. Büchergilde Gutenberg, Wien. 286 Seiten

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Mit allen Anzeichen der Sensation wurde Ende März 1953 der erste Europäische Literaturpreis dem Polen Czeslaw Milosz und einem bisher gänzlich unbekannten deutschen Autor, Werner Warsinsky, zuerkannt. Mit diesem Preis ist nicht hur ein stattlicher Geldbetrag, sondern die garantierte Auflage von 100.000 Exemplaren in sechs Sprachen verbunden.

Man versteht die prinzipielle Entscheidung der Juroren, die laut Gottfried Benns Ansprache bei der Verleihung vor dem Dilemma standen: „Soll man lieber etwas Warmes, Gemütliches, Bequemes, Historisches krönen?" In dieser „Kimmerischen Fahrt" wollten sie das Problematische, Grüblerische, Suchende in der Literatur auszeichnen, den Roman, der es sich selbst schwer macht und es angesichts eines kommerzialisierten Literaturbetriebs jenseits der großen Wettbewerbe auch in den Verlagsbüros entsprechend schwer hat.

Wenn das Werk nun vorliegt, wird jedoch gerade der strenge und nicht kommerziell orientierte, durch die Sensation der Neuentdeckung unbeeinflußte Kritiker seine Bedenken anmelden müssen. Denn hier ist die überwirkliche Vision nur angestrebt, gewollt, skizziert. Man kann aber das Chaos nur diszipliniert und keineswegs chaotisch darstellen, man darf mit seiner eigenen übermäßigen Phantasie nicht kokettieren, die Symbolik nicht aufdringlich plakatieren, mit der Vision sogleich den Kommentar mitliefern.

Einige Rezensenten rühmen die „Vielschichtigkeit" des Erzählten. Uns scheint sie Not, nicht Tugend, uns scheint auch der sprachliche Ausdruck unzureichend („Ich beschloß, seinen Rat, wenn nicht unbedingt zu befolgen, so doch seines ironischen Salzes nicht ganz entraten") und der Stil uneinheitlich, mit manchem Abgleiten in die Plattitüde („Ihr Name ist vielleicht Pi-Ping. — Sie sah mich fragend an. — Ohne das L, das aus der Mitte kommt, das süße L, das Li Tai nur zu denken wagt, rätselte ich spielerisch. — Noch immer sah sie mich fragend an. Li-Pling — Liebling! buchstabierte sie bedächtig harmlos zu meinem größten Vergnügen").

Das ganze Inventar der Ueberwirklichkeit von Homer bis Kasack ist aufgeboten, um in Ueber- wirrheit zu scheitern: Spaltung der Persönlichkeit, Ort- und Zeitlosigkeit, Grenzüberschreitung, Schattenreich, viele Namėn und ewig neuer Tod; und man meint, ein unfreiwilliges Bekenntnis des

Autors zu vernehmen, wenn sein Held äußert: „Nicht daß ich begriffen hätte, aber daß ich zu fragen begonnen hatte, das war wohl das Entscheidende" beziehungsweise „Ich hörte mich laut und deutlich in fremden Zusammenhängen sprechen und war erstaunt und dann leidenschaftlich angezogen von meinen eigenen Worten."

Eine Schicht dieser dauernd verschobenen Ebenen aber ist die realistische, fast reportagehafte; und in ihr gelingen mit dem Fortschreiten der Handlung mehrere ganz klare, konkrete, anschaulich erzählte Szenen aus dem zweiten Weltkrieg. Wenn Werner Warsinsky durch das Traumland nur hindurchgehen mußte, um sich von seinen wirren Visionen zu befreien, wenn er, im Fragen geschult, die rechten Fragen aufzugreifen Und in den ihm eigenen Zusammenhängen zu sprechen beginnt, wenn er also einen neuen Roman innerhalb seiner und seiner Wirklichkeit Grenzen zu schreiben imstande sein wird, hat er den Europäischen Literaturpreis nicht vergebens bekommen.

Hans Weigel

Gesegnetes Leben. Das Schönste aus den Werken des Dichters. Von Ernst Wiechert. Verlag Kurt Desch, Wien-München-Basel. 399 Seiten.

Nicht nur die schönsten Stellen, sondern wirklich das Wesentliche, Charakteristische und gewissermaßen Programmatische hat Gerhard Kamin, ein wirklicher Kenner des Gesamtwerkes von Ernst Wiechert, ausgewählt. Dieses umfaßt etwa 30 Romane und Erzählungen, die Märchen, die beiden autobiographischen Bücher „Wälder und Menschen" und „Jahre und Zeiten" sowie die Reden, darunter die bekannten an die deutsche Jugend von 1933 und 1945. Originell, höchst instruktiv — und unseres Wissens neu — ist die Anlage dieser Wiechert-Anthologie: zu jedem der chronologisch geordneten Werke hat der Herausgeber eine kurze Inhaltsangabe geschrieben und dann die wesentlichen Stellen aus dem betreffenden Buch aneinandergereiht. So entstehen Querschnitte nicht nur durch jedes einzelne Werk, sondern auch durch das gesamte Opus des Dichters. In einem Stichwortregister wird das ganze Material aufgeschlüsselt. Hier finden sich etwa die Titel: Gott und Mensch, von der Humanitas, vom Schicksal, von der Gewalt und der Herrschaft des Bösen, vom Bürgerlichen, vom Adel und andere. Von besonderem Interesse sind natürlich die Zitate aus dem fast völlig verschollenen Frühwerk Wiecherts („Die Magd des Jürgen Doskocil"). Da eineinzige, was bei einer Neuauflage nachzutragen wäre, sind die Daten der einzelnen Werke, und sei es nur im Inhaltsverzeichnis. Das Buch ist sauber gedruckt und dauerhaft gebunden.

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