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Kunst und Freiheit

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Wieviel sind die Kunst und die Freiheit heute wert? Ich stelle zwei Aussagen über ihren Mißbrauch einander gegenüber. Die eine Ist aus dem kommunistischen Osten zu uns gedrungen. Von dort her, wo man die Kunst mißbraucht, wenn man ihr die Freiheit bewußt vorenthält. Die andere stammt aus der „freien Welt des Westens“, wo die Freiheit gegeben ist, aber mißbraucht oder nicht gebraucht wird.

II;'a Ehrenburg hat sich einmal mit den Unientreuen Kritikern auseinandergesetzt, die Autoren deswegen tadeln, weil diese keine Bücher über den Wolga-Don-Kanal schreiben oder über die Textilindustrie oder über den Frieden. Ehrenburg, der an einem guten Wort über den Zarismus ersticken | könnte, wies dann darauf hin, daß in diesem verfluchten System das Leben eines Autors, zum Beispiel Tschechows, nicht leicht gewesen sei. „Aber“ — so fährt er wörtlich fort — „selbst der unverschämteste Redakteur dachte nicht daran, Tschechow das Thema der Geschichte vorzuschreiben. Könnte man sich vorstellen, jemand habe Tolstoj Anweisungen gegeben, wie“,Anna Karenina' zu schreiben sei, oder man habe Gorki anbefohlen, die .Mutter' zu schreiben?“ Das ist die klare Aussage des Tatzeugen für die Kunst und die Freiheit unter dem kommunistischen Regime.

Was den Wohlfahrtsstaat der freien Welt des Westens anlangt, so hat der Nestor der amerikanischen Kunsthistoriker aus neuerer Zeit, Bernard Berenson, eine Aussage hinterlassen. Angesichts der Gefahren der Atombombe schrieb er über Gefahren der Kultur. Er wies dabei auf die Bedrohung der Kultur hin, die durch die Langweile entsteht; diese kommt — so schreibt Berenson — aus dem „totalitären Wohlfahrtsstaat“ und aus der Verdrängung des individuellen Betätigungsdranges und der Lust zum Wagnis. „Was kann man anderes erwarten“, schreibt der Amerikaner, „als daß die Schweden, einst für ihre Lebenslust bekannt, die Landsleute Gösta Berlings, heute im Paradies des Wohlfahrtsstaates sioh durch ungewöhnlich hohe Seibstmordziffern und sonstige Symptome eines erschreckenden Grades an Überdruß, Unbehagen und Langeweile auszeichnen ...“

Die soziale Revolution der Linken, die seit 1789 im Gang ist, war und ist hinter der Utopie der „besten Gesellschaft“ her. Nicht der Glauben, daß es sinnvoll ist, von weniger gut entwickelten Verhältnissen zu besseren fortzuschreiten, ist utopisch. Im Aufstand der Linken ist aber die Vorstellung lebendig, daß nahezu alles, was vor der Stunde Null ihres Aufstandes gedacht, getan und geschehen Ist, eine ununterbrochene Reihe von folgenschweren Irrtümern und Fehlhaltungen gewesen Ist. Wohl seien selbst in den „dark ages“ die Menschen an sich gut und vernünftig und klug gewesen. Aber die Zahl der damals herrschenden Ordnungsmächte hätte vorwiegend darin bestanden, die Menschen auszubeuten, sie to einer sklavischen Abhängig-

keit von geistlichen und weltlichen Autoritäten zu halten. Hoffnungslose Konflikte der Menschen untereinander, Konflikte mit schlechten Gesetzen, die diese Obrigkeiten ausheckten, und' der Pfaffenbetrug mit dem Jenseits hätten jahrhundertelang der „besten Gesellschaft“ im Wege gestanden. Diese knebelnden Mächte seien jetzt weg, ausgerottet, unter Kontrolle oder durch unversöhnliche Gegner so eingeschüchtert, daß sie nicht mehr könnten wie sie wollten.

Eine Zeitlang werden die Sieger in der sozialen Revolution noch sagen dürfen: Wartet noch ein wenig. Noch haben wir die Schlacken der Vergangenheit nicht weggefegt. Noch sind die Verräter der Reaktion unter uns. Noch sind wir nach langer Unterdrückung nicht vollends frei und stark. Noch kann die Linke die Hoffnung wecken: Wenn erst die Wirtschaft in Ordnung gebracht und die soziale Ordnung gerecht sein wird, dann werden sie schon kommen: Die kühnen Experimentatoren, die Draufgänger, die schöpferischen Individualitäten.

Vorläufig sieht die alte Kunst der Sklavenhaltergesellschaft neben der Moderne noch recht repräsentativ aus. Neue Eliten kamen und gingen. Besser: Sie kommen in schwindender Zahl, und gar nicht wenige darunter haben sich aus der neuen Gesellschaft verduftet. Diese Menschen, die in die „innere Emigration gehen“, wie man es poetisch ausdrückt (in Wirklichkeit sind sie die „Abschnitzel“ der perfekten Gesellschaft), sagen, sie hätten vom Staat, vom Regime, von der Politik genug. Noch wissen sie gar nicht, daß ihre Langweile, ihr Überdruß und ihr Unbehagen nicht so sehr vom Staat her kommt, sondern von der Gesellschaft, die seit zweihundert Jahren im Begriffe ist, sich zu „perfektionieren“.

1919 hörte man in Berlin in den „Stimmen des Arbeitsrates der Kunst“, der Staat sei in seinem Wesen kunstfeindlich. Nur das Volk sei kunsttragend, weil es lebendig ist. Der Staat als Maschinerie bleibe unlebendig. Also beschloß man, sich um den Staat überhaupt nicht zu kümmern und sich auch In keinen Kuhhandel mit ihm einzulassen. Auf den Bund mit dem Volk setzten dann die Künstler.

Fast gleichzeitig wurde dieses Experiment in Rußland, mitten in den Wirren des Kriegskommunismus und der Hungersnot gemacht. Dort erlebte das künstlerische Schaffen zunächst einen erregenden Ausbruch. Einige der Künstler, die trotzdem ins Ausland gingen, erlebten zwar, daß dort ihre Kunst geschätzt und in Museen bewundert wurde; aber ihre schöpferische Kraft wurde zuweilen in der Trennung von der Heimat gelähmt. Die Daheimgebliebenen wieder erlebten, wie ihre Anerkennung dahinschwand. Sie mußten sich der Ideologie anpassen, die eine realistische Darstellung des Lebens fordert, statt der Auslegung gefühlsmäßiger und optischer Erfahrungen. Es geschah, daß diese russische

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