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Harald Weinrichs Kulturgeschichte der Zeit.

Fasse mit flinker Hand die Früchte, ehe sie entschwinden." Diesen Ratschlag des Ovid hat Harald Weinrich nicht wiedergegeben. Vielleicht, weil er nicht den falschen Eindruck erwecken wollte, als ginge es ihm um das Plädoyer für eine hedonistische Lebensführung. Das geistreiche Buch zur von Hans Blumenberg konstatierten Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit lässt der Autor demgegenüber mit dem oft abgewandelten und kommentierten Spruch des Hippokrates beginnen: "Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst." Ein wahrlich trefflicher Anfang! Gemeint ist hier nicht die Kunst in unserem geläufigen Sinn, sondern die Kunst als Fertigkeit. Vielleicht dachte der Arzt des fünften vorchristlichen Jahrhunderts in Kos an seine eigene Kunst, die Medizin. So könnte man paraphrasieren: Kurz ist das Leben, lang die Kunst, es lebenswert zu machen. Lang währt nämlich auch das Tun der Lachesis, der zweiten der Schicksalsgöttinnen, die den von Klotho geflochtenen Lebensfaden eines jeden von uns zwirbelt, ver- und entwirrt, kunstvoll oder verspielt wickelt, bis ihn schließlich die dritte der Parzen, Atropos (die Unabwendbare), ein für allemal abschneidet.

Weinrichs üppiges Panoptikum zur Zeit spürt jenen Rückständen nach, die menschliches Reflektieren über die Erfahrung, dass "das Leben Zeit kostet", in seinen literarischen Produkten hinterlassen hat. In dieser brillanten Kulturgeschichte der Zeit ist so viel von Relativität die Rede und von so viel Ermutigung, sich seine Lebenszeit selbst zu gestalten, dass man ob der Leerstelle des großen Abwesenden im Namensregister, Albert Einstein, kaum an Zufall denken mag. Lebenszeit und Weltzeit, das ist immer noch mit der eigenen Existenz Erlebtes und lässt sich nicht in einen noch so genialen Formalismus zwängen. Dafür aber, so darf man selbstbewusst konstatieren, ist die Kulturwissenschaft zuständig! Weinrich lässt kaum einen Aspekt des Themas aus. Von den diesseitigen Jenseitserwartungen im Christentum über die Diesseitserwartungen in der revolutionären Geschichtsphilosophie, der Ewigkeit und dem Nichts, bis zu den immer knapper werdenden Fristen in der Neuzeit. Dabei hat sich an der Lebenszeiterwartung im Grunde gar nicht viel geändert.

Bis weit ins Mittelalter galt die in der Bibel festgelegte Spanne menschlicher Zeit. Der Psalmist bestimmt sie mit siebzig Jahren, wenn es hoch kommt, achtzig! Damit ergibt sich für die Lebensmitte die Zeit zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr. Mit diesen Lebensdaten spielen zahlreiche Autoren.

Dann kam die Renaissance, das Zeitalter der Entdeckungen, beginnender globaler Weltläufigkeit. Es hob der Handel an und die Betriebsamkeit der Stadt - und die Zeit geriet aus den Fugen. Jacques Le Goff muss an der Zeitenwende vom Mittelalter in die Renaissance die Zeit der Händler von jener der Kleriker trennen. Die Welt wird modern, dazu gehört die Ökonomie der Zeit, besser: ihr Management. Fristen und Termine bestimmen unser Leben. Immer wieder nahm der Mensch Anlauf, angesichts der drohenden Fristen, deren letzte jene ist, die Hofmannsthal dramatisch auf die Bühne gebracht hat, Zeit zu sparen. Weinrich sieht eine ganze Epoche, die Klassik, die gegen die Verschwendung im Barock auf Zucht und Verknappung setzte, unter solchem Vorzeichen.

Doch irgendwann, meist nach der Lebensmitte, wächst die Einsicht, dass man den Rechenstift zur Seite legen sollte, um sich der wahren Lebenskunst zuzuneigen. Diese zu erlernen, das ist es, was angesichts der knappen Zeit lang wird. Weinrichs Buch ist dazu jedenfalls eine gewinnbringende Anleitung.

Knappe Zeit

Kunst und Ökonomie

des befristeten Lebens

Von Harald Weinrich

C.H.Beck Verlag, München 2004

272 Seiten, geb., e 23,60

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