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Musterknaben ohne Muster?

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Schlechtes über die Schweiz zu sagen, sei ein europäischer Zeitvertreib, hat einmal ein Belgier gesagt. Die Schweizer haben dies bislang gelassen hingenommen, weil das Schlechte, das ihnen ihre Nachbarn und (heimlichen) Freunde immer wieder unter die Nase rieben, eigentlich gar nicht so schlecht, sondern vielleicht viel eher eine Art übertriebener Tugend ist. Jedenfalls nichts Lasterhaftes. Denn was kritisiert die Welt an der Schweiz? Sie kritisiert den helvetischen Hang zum Perfektionismus. Sie bewundert (und haßt zugleich) die Putzwut der Schweizer Frau und die Sauberkeit der Dörfer. Sie verabscheut (und beneidet zugleich) den Arbeitseifer der Hirtenknaben. Sie stößt sich (und erbaut sich gleichzeitig) an der Vorsicht und Bedächtigkeit, an der Berechnung und Berechenbarkeit der Eidgenossen. Sie findet die Schweizer selbstgenügsam und selbstgerecht und gibt doch zu, daß sie damit nicht schlecht fahren. Sie findet die Schweizer zwar gastfreundlich, aber doch reserviert, distanziert. Sie beneidet die Helvetier um ihre Neutralität, um ihre völlig andere innen- und außenpolitische Werthierarchie, die schuld daran ist, daß die Eidgenossenschaft nicht ihre Fahnen mit Ruhm und ihre Söhne nicht mit Ritterkreuzen bedecken kann, die aber dem Lande dafür Geborgenheit, Sicherheit und wohl auch ein gut Teil seines Wohlstandes eingetragen hat. Und weiter beneidet die Umwelt die Schweiz auch darum, daß es ihr immer wieder gelingt, vier Rassen und viele Minderheiten friedlich unter einem Dach zu vereinen und dabei allen und jedem das Maximum an politischer Mitsprache und Mitgestaltung dieses aus lauter Gegensätzen bestehenden Staates zu gewähren. Daß der Staat dabei nicht etwa schlecht fährt, das hat sich soeben wieder an einem typischen Beispiel erwiesen: mit erdrückendem Mehr von 4:1 haben die Stimmbürger sich für die nächsten zehn Jahre selber die Steuern dekretiert

Trügt der Schein?

Trotz dieses äußerlich erhebenden Bildes vom anscheinend unveränderlichen Musterstaat sind auch in der Schweiz Anzeichen eines Wandels festzustellen. In dem fehlerlos gewobenen Muster sind in letzter Zeit einige Fäden gerissen, und verwundert hat man zur Kenntnis genommen, daß dasselbe Ausland, das sich immer über den helvetischen Perfektionismus und die schweizerische „Ordentlichkeit“ mokiert hatte, nun empört auf Flecken auf der weißen Schweizer Weste zeigt. Wie haben sich zum Beispiel die englische,

die deutsche und die französische Presse in moralische Empörung gesteigert, als die Zermatter Typhusepidemie mit einem Mal die Tatsache ans Licht schaffte, daß im Musterreiseland Schweiz die Fremden Verkehrskonjunktur einzelnen

Fremdenorten über den Kopf gewachsen ist und sie zu einer Sorglosigkeit verleitet hat, die daran chuld ist, daß die öffentlichen Dienste und sogar die Hygiene dem Hotel- und Ferienhausbau-Boom hinten nachhinkt Immerhin hat der Fall Zermatt ernüchternd gewirkt. Ob aber die Konjunktur den Eidgenossen Zeit genug läßt zu echter Einkehr, ist eine andere Frage.

Es gibt nämlich auch andere Anzeichen dafür, daß die traditionelle schweizerische Solidität und Seriosität nachläßt. Ein kleines Symptom: Als vor drei Jahren ein primitives Sensationsblatt nach deutschem Muster lanciert wurde, war männiglich gespannt, ob es sich in der „soliden Schweiz“ mit ihrer staatsbürgerlich wachen, zu kritischem Urteil erzogenen Zeitungsleserschaft werde halten können. Heute, drei Jahre später, hat dieses Boulevardblatt die zweitgrößte Auflage aller Schweizer Zeitungen! Das ist doch wohl ein Symptom. Ihm gesellen sich andere zu, die auf ein Nachlassen des in der Schweiz bis vor kurzem ganz groß geschriebenen Qualitätsbewußtseins hinweisen.

Unbewältigter Konjunktursegen

Das Absinken der Leistungskurve, der Verantwortungsfreude und des Einsatzeifers ist zwar keine schweizerische Exklusivität, aber diese unerfreuliche Begleiterscheinung der Überkonjunktur wird von allen Vertretern der älteren Generation, denen Solidität und Tüchtigkeit als höchste aller irdischen Tugenden eingeprägt worden sind, als für die Zukunft der Schweiz gefährlich empfunden. Die Schweiz, die auf den Export so sehr angewiesen ist, verfügt über keine natürlichen Bodenschätze und nur über einen einzigen naturgegebenen Reichtum: die Arbeitskraft und Tüchtigkeit ihrer Menschen. Diese Tugenden haben den schweizerischen Qualitätsbegriff geschaffen, mit dem der schweizerische Ruf in der Welt — nicht nur in der Wirtschaftswelt — steht und fällt. Wenn daher im Augenblick in der Schweiz soviel von Konjunkturdämpfung die Rede ist und die Landesregierung einschneidende Maßnahmen zu diesem Zwecke ausarbeitet, so nicht nur, um den drohenden Zerfall der Kaufkraft des Frankens abzuwehren, sondern auch in Sorge um die Arbeitsgesinnung des Volkes, die unter der leichten Geldverdienerei leidet.

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