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Peguys letzte Dichtungen

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DIE LETZTEN GROSSEN DICHTUNGEN. Von Charles Pėguy. Verlag Herold, Wien. 1»1 Seiten, 85 S.

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DIE LETZTEN GROSSEN DICHTUNGEN. Von Charles Pėguy. Verlag Herold, Wien. 1»1 Seiten, 85 S.

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Ein kleines, aber gewichtiges Buch, das die vier bereits erschienenen Peguy-Bände ausgezeichnet vervollständigt: denn es l eleuchtet von innen heraus den persönlichen, autobiographischen Wert der „Mysterien“ — der Erbarmung, der Hoffnung, der Unschuldigen Kinder; es stellt andrerseits das theologische Rückgrat der „Nota conjuncta“ und des ganzen Oeuvre von Pėguy dar. Er ist eigentlich kein Jüngling mehr, als er, verheiratet und Familienvater, eine junge Frau kennenlernt, deren Liebe ihm schicksalhaft erscheint und seine seelische Ruhe sichern könnte. Zwischen Liebe und Ehre hin- und hergerissen zögert er aber nicht: seiner Frau und seinen Kindern bleibt er treu, die er unter den mystischen Schutz von Unserer Lieben Frau von Chartres gestellt hat, zu der er mehrmals demütig und hoffnungsvoll pilgert. Ein tiefes menschliches Drama verbindet somit die „Ballade des Herzens, das zu stark schlug“, jene „Quatrains“, von denen eine kurze, aber sinnvolle Auswahl in der ausgezeichneten Übersetzung von Friedhelm Kemp in diesem neuen Band nun vorliegt, mit den ruhigeren „Tapisseries“, das heißt den vier innigen Gebeten, die Pėguy in der Kathedrale von Chartres zur Mutter Gottes emporschickt, nachdem er das ganze „Land der Beauce“ der heiligen Jungfrau, „Gebieterin des Kornes“ und „Zuflucht des Sünders“ dargebracht hat. Oswald von Nostitz hat diese Gedichte in schöne Alexandriner übertragen. Er hat auch von den 7000 Versen des Epos „Eve“ zwei große Abschnitte übersetzt — die Auferstehung der Toten, Gebet für uns Irdische — die in ihrer gedrängten gedanklichen Dichte die große Tragweite und die christliche Bedeutung dieser einzigartigen Dichtung erahnen lassen. Eve, die Mutter des Menschengeschlechtes, spricht hier nämlich zum Dichter und mit ihm: die ganze Geschichte der Erde und des Menschen wird aufgerollt, der biblisch-christliche Heilsmythos entsteht in seiner mystisch-geschichtlichen Wahrheit; eine „göttliche Komödie“, zugleich eine menschliche Tragödie, die im geheimnisvollen Skandal des Kreuzes ihre Krönung findet. Peguys Weltanschauung und Geschichtsphilosophie wird hier auf originale Weise dargelegt: in der Form einer epischen Rückblendung, bei der eine raffinierte aber unauffällige Technik der thematischen Umkehrung, gleich einer liturgischen Litanei zur Selbstbesinnung und zum Gebet einlädt. Denn Pėguy macht sich eigentlich keine Illusionen: das Problem des Bösen, das ihm in seinem eigenen Leben oder im Schicksal seiner Jeanne d’Arc begegnet ist, bleibt eine „analytische und dialektische Erklärung“ schuldig. Es ist ein Mysterium, das sich nur der Liebe, der Erbarmung und der Hoffnung erschließt und denjenigen zugänglich wird, die gleich den Unschuldigen Kifidem, bewußt oder unbewußt, in das Leiden des Menschensohnes eingeweiht werden. Das „Alleluja“ des paradiesischen Glücks muß jeder Mensch „verlernen, noch ehe er geboren“ wird (Seite 187): durch die Heimkehr im Tode findet er aber zur Mutter und zur ewigen Geburt zurück. Es ist dies nichts anderes als die wohl bekannte Paradoxie des Christentums selbst. Peguys einzigartiges Verdienst ist es eben, die „stultitia“ des christlichen Geschehens, ebenso künstlerisch und originell wie Claudel, literarisch gewürdigt und verwertet zu haben. Der vorliegende Band enthält die bedeutende Einführung, die Pėguy selbst unter einem Pseudonym in der Zeitschrift seines Freundes J. Lotte über sein Epos geschrieben hat, und zwei aufschlußreiche Vorworte der beiden Übersetzer. Somit werden „die letzten großen Dichtungen“ authentisch erläutert und sie können nun ihren Weg zu einem breiteren Publikum finden.

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