6662911-1960_17_11.jpg
Digital In Arbeit

Roman des geteilten Deutschland

Werbung
Werbung
Werbung

In der letzten Produktion der westdeutschen Vertage von Rang haben diesmal nicht nur Übersetzungen ausländischer Werke Aufsehen erregt; es gibt einige vieldiskutierte deutsche Neuerscheinungen, die aufhorchen lassen. Unter ihnen nimmt Uwe Johnsons erster Roman, „Mutmaßungen über Jakob“, einen hervorragenden Platz ein. Ein außerordentliches, ein erregendes Buch, dessen Erzähltechnik ebenso aus dem gewohnten Rahmen der deutschen Literatur fällt wie sein sensationelles Thema. Das Thema ist die trostlose Wirklichkeit des zweigeteilten Deutschland, die schier unüberbrückbare Entfremdung der beiden Staaten, nicht nur in politischer Hinsicht, die hier ohne Ausweichen und ohne Beschönigung enthüllt wird. Und der sich an diese gewöhnlich mit soviel Sorgfalt verschleierten Tatsachen heranwagt, ist ein bisher völlig unbekannter junger Autor: Uwe Johnson, 25 Jahre alt, in Pommern geboren und jetzt in Berlin lebend. Mehr verrät uns der Verlag nicht über ihn, auch nicht, in welchem Berlin er lebt. Jedenfalls stellt sich schnell heraus, daß Johnson die Verhältnisse in der DDR kaum nur vom Hörensagen kennt. Die politische und soziale Situation, das Lebensgefühl der Menschen, die angespannte Wachsamkeit ihres Reagierens und Handelns in der Öffentlichkeit und sogar in den privaten Bereichen, die vielen täglichen Anfechtungen, die vom einen mit Versagen, vom andern mit einer ständigen menschlichen Bewährung beantwortet werden — das alles ist nicht von außen gesehen und erdacht. Da spricht einer, der seine Erfahrungen gemacht hat, möchte man meinen; Erfahrungen, die alles andere als bequem sind und von jeglicher Schablone weit entfernt, in die ostdeutschen Klischees genau so wenig hineinpassend wie in die westdeutschen.

Die Handlung begibt sich in den beiden Teilen Deutschlands, vorwiegend aber im Grenzgebiet hinter dem Eisernen Vorhang, in der kleinen mecklenburgischen Provinzstadt Jerichow, und in einer großen Stadt an der Elbe, in der Jakob Abs, die Zentralngur des Buches, seiner Arbeit als „Streckendispatcher“ bei der Bahn nachgeht. Um Jakob gruppieren sich andere Haupt- und Nebengestalten, von denen jede einzelne in besonderer Weise mit seinem Schicksal verbunden ist. Da ist der Kunsttischler Cre.sspahl jn Jerjchow„ in dessen Haus Jakob und seine Mutter nach ihrer Flucht aus Pommern einen Unterschlupf und später eine neue Heimat gefunden haben. Cresspahls Tochter Gesine sodann, die „zum Westen“ gegangen ist und als Sekretärin bei der NATO arbeitet. Dr. Jonas Blach, Gesines Freund, ein Intellektueller der DDR, den die Tauwetterhoffnungen nach Stalins Tod zu allerlei unvorsichtigen Bemühungen um einen „menschlichen Sozialismus“ verführen, die ihm zum Verhängnis werden. Und schließlich Herr Rohlfs, ein Hauptmann des Staatssicherheitsdienstes, der den Auftrag hat, Gesine als Agentin für die DDR zu gewinnen und alle sogenannten Personen, einschließlich der Frau Abs, als Werkzeug für seine Zwecke zu benutzen versucht.

So spinnen sich vielfältige Fäden von hüben nach drüben. Jakobs Mutter, völlig hilflos gegenüber den Machenschaften des Herrn Rohlfs, geht gleich nach dessen erstem Versuch, sie für seine Ziele einzuspannen, in den Westen. Jakob lehnt, trotz der Garantie des Herrn Rohlfs, Gesine werde sich frei entscheiden und gegebenenfalls wieder ausreisen dürfen, unzweideutig das Ansinnen des Hauptmanns ab, sie in die DDR einzuladen. Aber da kommt das Mädchen, das starke menschliche Bindungen in der alten Heimat hat und mit seinem neuen Leben nicht in Einklang ist, von sich aus für einen kurzen Besuch zu ihrem sehr geliebten „halben Bruder“ Jakob — ohne Paß, und auch noch am ersten Tag des Ungarnaufstandes. Man denkt natürlich: Schlimmeres hätte sie für den Zugriff des Herrn Rohlfs nicht anstellen können. Aber die Dinge entwickeln sich völlig anders, als sie sich nach den landläufigen Vorstellungen entwickeln müßten. Herr Rohlfs zieht das um Gesine gesponnene Netz nicht einfach zusammen; er hält nichts von Erpressungen, nach der Begegnung mit Jakob noch weniger als vorher. Nein, er hält sich an das doch unter anderen Voraussetzungen gegebene Versprechen und fährt Gesine an die Grenze zurück, damit sie ihre Entscheidung ohne Druck treffen kann. Ja, dieser seltsame Herr Rohlfs, der so herausfordernd aus dem Rahmen seiner Kollegen vom Staatssicherheitsdienst fällt — auch von diesen „Hundefängern“ lernen wir einige kennen —, läßt Jakob sogar in den Westen reisen. Nicht nur, weil er unbesorgt ist wegen seines Wiederkommens, nicht auch „zu irgendeinem Zweck, sondern weil er (Jakob) es wünschte“. Wir erwähnten schon, Johnson ist sehr unvoreingenommen; für ihn ist der Mensch kein Einmaleins, sondern ein Wesen mit ganz unberechenbaren Möglichkeiten. (Von Rohlfs und Jakob heißt es einmal: „Sie hätten befreundet sein können, wenn sie nicht gestanden hätten an unvereinbaren Stellen, wenn dazu nicht der schmerzliche Unterschied der Meinungen gehört hätte .. .“)

Warum aber reist Jakob in den Westen? Es geschieht nicht nur, um seine Mutter zu besuchen. Er fährt zu Gesine, weil für ihn, der bisher so sicher und unangefochten an seinem Platz stand („er für seine Person hatte sich eingelassen nach dem Krieg mit dem, was wir also nennen wollen Hoffnung des Neuanfangs, er für sich wollte es verantworten, und auch die Entscheidung, die darin bedeutet sein sollte“), die Dinge und Verhältnisse nicht mehr klar sind nach all den Geschehnissen, in die man ihn verstrickt hatte. Auch der ungarische Aufstand und seine Reaktionen in den verschiedenen Lagern spielen eine Rolle bei dieser neuen Unsicherheit Jakobs. Aber seine Reise ist keine Flucht; Gesine stellt später fest, daß Jakob von Anbeginn zurückgehen wollte; nicht erst nach den Erfahrungen, daß er fremd und befremdet ist in dem anderen Deutschland. Es gibt da eine schlimme Szene, in der „der Bruder aus dem Osten“ sehr schnell für die Männer eines westdeutschen Gesangvereines zum „Hergeschickten“ wird, zum Kommunisten („und alle Kommunisten sind Volksverräter“), als er nicht reagiert, wie sie es erwarten. Verloren also dort und nicht mehr heimisch da! Wie aber soll ein Mensch von Jakobs Art leben ohne festen Grund? So empfindet der Leser seinen rätselhaften tödlichen Unfall auf dem Bahngelände — gleich nach der Rückkehr, auf dem ersten Weg zum Dienst — beinahe als barmherzigen Eingriff des Schicksals. Aber ist es ein Unfall? „Jakob ist doch immer über die Geleise gegangen“, sagen seine Freunde.

Wir haben alle diese Ereignisse so ausführlich berichtet, weil Johnson es dem Leser schwer macht, sie zu entziffern, weil er ihm allzu viel zu erraten und zu kombinieren aufgibt. Es fehlt seinem Buch die kontinuierlich fortlaufende Fabel und jede psychologische Kausalität. Erzählung, schwieriger Dialog und eigenwilliger innerer Monolog laufen nicht immer gerade durchsichtig nebeneinander her. Fäden werden unvermittelt abgerissen und auf einer neuen Ebene, unter anderer Perspektive, wieder aufgenommen, um wieder unvermittelt abzureißen. Aber nicht nur diese in der deutschen Literatur ungewöhnliche Schreibweise ist kompliziert und oft genug verwirrend. Sie entspricht sehr genau dem Gehalt des Buches. Denn auch die Ereignisse und die. Menschen sind undurchsichtig und vieldeutig. „Als ob die Dinge wären, wie einer sie sieht“, heißt es einmal, und an anderer Stelle: „Niemand besteht aus den Meinungen.“ Oder Jonas Blach bedenkt, daß er nicht weiß, was Gesines „eigenes unverwechselbares Leben“ ist. Der Titel deutet es ja an: man muß sich mit Mutmaßungen begnügen in den Bereichen des eigentlichen Seins — nichts ist dort sicher und gewiß.

Wie wenn er einen Ausgleich brauchte für die bewußte Zurückhaltung gegenüber den Geheimnissen des Daseins, schildert Johnson alles Greifbare und Faßbare der Wirklichkeit mit geradezu leidenschaftlicher Anteilnahme und einer manchmal aufreizenden Genauigkeit: die verschiedenen Tätigkeiten seiner Gestalten etwa, technische Vorgänge in Jakobs Stellwerk, aber auch äußere Merkmale von Menschen, oder Cresspahls Katze. Bei solchen Gelegenheiten wird ein Übermaß von Worten aufgeboten, werden Adjektiva gehäuft, um nur ja alle Details rundherum zu erfassen. Zu welchem vielsaitigen Instrument wird die Sprache bei Johnson; beide Möglichkeiten beherrscht er mit untrüglicher Sicherheit: exakteste Beschreibung auf der einen Seite, herbe Verschwiegenheit auf der anderen, wobei es ihm gelingt, gerade durch den Verzicht auf ein Mehr das Unsägliche transparent zu machen. Köstliche Wirkungen ergibt die hie und da verwendete mecklenburgische Mundart. Mit ihr zaubert Johnson Nähe und Vertrautheit, Wärme und Geborgenheit herbei, manchmal auch verhaltene Zärtlichkeit. Oder diese hintergründigen Formulierungen: Da fährt einer „in die Städte Berlin“, und die ganze unglückselige Situation Berlins und des zweigeteilten Deutschland ist gegenwärtig!

Wir erwähnten schon, daß dieses Buch sich mühsam liest, und darum ist zu befürchten, daß alle seine Schönheiten und bitteren Wahrheiten, die zu hören not tut, viel zuwenig Menschen erreichen werden. Es wäre jammerschade, wenn Uwe Johnsons Leserkreis auf Leute beschränkt bliebe, die an avantgardistischen literarischen Experimenten interessiert sind. Sein Buch ist auch in ästhetischer Hinsicht viel mehr als ein solcher Versuch, denn seine Form ist alles andere als zufällig oder konstruiert. Sie ist die einzig gemäße für seine herzbeklemmende Geschichte von den zwei deutschen Vaterländern und ihrer Entfremdung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung