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Schrei gegen die Mot

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Hier spricht Abbe Pierre (Le poids du jour). Uebertragen von Elisabeth Serelmann- Küchler. Kerle-Verlag, Heidelberg. 227 Seiten. Preis 9.80 DM.

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Hier spricht Abbe Pierre (Le poids du jour). Uebertragen von Elisabeth Serelmann- Küchler. Kerle-Verlag, Heidelberg. 227 Seiten. Preis 9.80 DM.

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Hier spricht einer jener seltenen Menschen, die angesichts einer himmelschreienden Not das Nächste und Selbstverständlichste taten, nämiich zupackten und halfen und keine Matinee veranstalteten und keinen Verein gründeten zum Studium der Not. Der wohl auch sprach, und wie er spricht! Aber erst nachdem er allein nicht mehr weiterkonnte und, um die Not zu wenden, Hunderte und Tausende rufen mußte. Darum hatte sein Wort auch die Resonnanz der Liebe und einer ganzen Hingabe. Allerdings hatte er Elendszustände vor sich, die, wenigstens in Europa, nicht leicht wo in diesem Ausmaß zum Himmel schreien. (Es ist ja kein Zufall, daß neben Italien Frankreich die größte kommunistische Partei hat und daß diese in Spanien nur niedergehalten ist.) Hier spricht also Abbe Pierre. Er erzählt einleitend seinen Weg zum Priestertum. Einige Reden sind ganz enthalten, die meisten sind in den eindrucksvollsten Stellen wiedergegeben. Hier erst liegt der Bericht seines Lebens. Dem Parlamentarier nach 1945 kommt das Aufstoßen vor der vielen Parierte, er gründet von seinen Diäten Emmaus, zuerst als Notunterkunft für obdachlose Familien („in diesem Land wissen

300.0 Familien nicht, wo sie nachts schlafen sollen“, „in Paris allein gibt es 10.000 obdachlose Familien“, „dennoch steht Frankreich, was Wohnbau anlangt, an letzter Stelle“), dann für Jugendliche. Aus dem Ganzen wird eine große Wohnsiedlung für obdachlose Familien, nicht auf Kosten der Steuerzahler, sondern allein der Liebe, der Brüderlichkeit und der menschlichen Zusammenarbeit. „Revolution der Nächstenliebe!" Hier spricht Abbe Pierre! Er spricht gegen die Ueberheblichkeit der Kulturprotzen, gegen die Habsucht und die Herzlosigkeit, die Selbstgenügsamkeit, die wegschaut vom Jammer und das klopfende Herz mit einem Almosen niederhält. Gegen die Selbstzufriedenheit, „diese schlimmste aller Verirrungen“. Gegen den Widersinn eines Luxus und einer Vergnügungssucht, während Kinder nachts auf der Straße an Hunger starben und in Paris erfrorene Greise am Morgen von der Straße weggetragen werden. Als sein Gesuch um eine Milliarde Franken für Behelfswohnungen abgelehnt wird mit der Begründung: „Hirnverbrannte Idee“, schreit er ins Mikrophon: Das ist möglich in einem Land, das jährlich allein 162 Milliarden zur Bekämpfung des Alkoholismus und gleichzeitig 40 Milliarden Subventionen für die Alkoholindustrie ausgibt. Aber: „Nein. Das Volk ist nicht verlottert“ (91). Als er einmal bebend in aller Früh den Radiohörern meldet: „Zu Hilfe, meine Freunde! Heute nachts um 3 Uhr wurde auf dem Boulevard Sebastopol eine tote Frau aufgelesen, sie hatte ein einziges Papier bei sich: den Delogierungsschein. — So schlafen jede Nacht in dieser Stadt über 2000 Menschen bei strengem Frost und ohne ein Stück Brot", da hatten in elf Tagen die Franzosen 250 Millionen Franken gespendet. Aber die Not, vor allem die seelische Not des Hasses und der Verstockung, ist noch mächtiger: „Wenn es je einen Aufstand der Nächstenliebe gegeben hat, heute ist diese Zeit vorbei. Jetzt geht es nicht mehr um Wohltätigkeitsaktionen. Jetzt geht es um die Verwirklichung der Gerechtigkeit, sonst kommt es zum Aufstand der empörten Massen“ (218). — Das Buch gehört in jede Volksbibliothek. Und sollte auf dem Tisch der Theologen und Priester liegen, besonders derer, die in Arbeitervierteln wirken. In ihm stehen herrliche Bekenntnisse eines bis in die Herzmitte hinein von seinem heiligen Beruf getroffenen und gejagten Priesters.

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