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Swetlana schlug wieder zu

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„DAS ERSTE JAHR“. Von Sweflana Allilujewa. Aus dem Russischen von Xaver Schaffgotsch, Verlag Fritz Molden. 388 Seiten. Leinen, S 135.-^.

Die Töchter Stalins hat nun ein zweitesmal zugeschlagen! So möchte man es ausdrücken. Wird auch jemand sich getroffen fühlen? Nur eine Eichel scheint dem Riesen der Hammer Thors. Das aber rührt, unverschlüsselt gesprochen, davon her, daß der Westen schon lange nicht mehr gewillt ist, der Wirkung solcher Schläge nachzuhelfen. Er betrachtet das ungeheure Unrecht im Osten längst nicht mehr als seine Angelegenheit, ist sich selbst und groß genug, zufrieden, die beschworenen Menschenrechte auf seinem Gebiet in Geltung zu sehen. Andere Länder, andere Sitten. Fühlen sich die Russen nicht zum Leiden geboren? Was will man also? Längst ist der Wolf, vor dem gewarnt wird, gezähmt, ein armer Hund. Und all Obiges nur Spaß.

Daß ein großes Volk aus Angst sich nur noch flüsternd zu unterhalten wagt, daß es, vom Technischen abgesehen, heute geistig noch beim Jahre 1917 hält, wer weiß, wer glaubt das schon bei uns? Man wird es nach dieser Lektüre glauben müssen. Denn nicht, wie der Leser meinen möchte, von längst vergangenen Zeiten, nicht von den finsteren Verhältnissen der zwanziger und dreißiger Jahre handelt das neue Buch der vor drei Jahren aus der Sowjetunion Entflohenen, sondern von heute, von dieser unserer Gegenwart. Dem diktaturerfahrenen Österreicher läuft, wie dem Reiter über den Bodensee, Schauder um Schauder über den Rücken. Klug und weise geworden, betrügt er sich vor allem selber nicht: Kein noch so beruhigender Gedanke an die Millionen geduldiger Russen, die das als unerträglich Geschilderte dennoch ertragen,

macht Ihm die Rechtfertigung dieser Flucht verdächtig. Er weiß: Man kann vor lauter Elend das Elend auch vergessen, vor Gitterstäben Freiheit nicht einmal mehr erahnen. Es braucht immer Beispiele. Hier ist eines.

Man kann es allerdings auch so sehen: Eine Mutter läßt ihre Kinder im Stich, um im Ausland ihren Uterarischen Neigungen zu frönen. Ist also doch Stalin und nicht Allelu-jewa ihr richtiger Name? Zweifellos hat die Hoffnungslosigkeit, ihre heimlich in der Sowjetunion geschriebenen politisch brisanten „20 Briefe“ jemals zum Druck zu bringen, die Flucht geradezu nach sich gezogen. Und ohne Zweifel ist Swetlana nicht nur und vor allem oder ausschließlich Mutter. Doch gibt gerade dies ihr in den Augen des Unvoreingenommenen das moralische Recht, sich von ihren immerhin schon sehr erwachsenen leiblichen Kindern gegebenenfalls zu trennen, um auch dem geistigen Kind ans Licht zu verhelfen. Die Begegnung mit diesem geistigen Produkt läßt keinen Zweifel aufkommen, welcher Ansicht über seine Erzeugerin man sich anschließen soll. Schon nach wenigen Seiten wird dem Leser die ungeheure Sensation dieser Bekenntnisse bewußt. Im ersten Teil, bis zur Mitte des Buches, läßt ihn die Spannung, welche die Erwartung der Verwirklichung des großen Entschlusses zur Flucht in ihm erzeugt, keinen Augenblick aus. Kein noch so geringes Detail, keine Zeile, nichts, was man ungelesen lassen möchte. Diese Fesselung, diese innere Engagiertheit des Lesers allein durch die Prominenz der Autorin zu begründen, ist ungerecht. Sie ist gewiß auch dem Talent der Schreiberin zu danken, mit dem sie ihr und ihres Volkes Schicksal der Menschheit Erlebnis werden läßt. Weiche Wirkung müßte das Buch in Rußland haben!

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