Symphonie der Gegensätze

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Orhan Pamuks neuester Roman "Schnee" verleiht der türkischen Vielstimmigkeit Gehör: Islamisten und Säkularisten, Gläubige und Atheisten kommen zu Wort - und die Leser der Türkei vielleicht ein Stück näher.

Es beginnt wie ein Abstieg in die Unterwelt, zumindest aber wie die Fahrt in einen Traum oder ans Ende der Welt. Denn fast am Ende der Welt liegt der Ort Kars, an der türkischen Grenze, auf dem Weg nach Georgien, in den Kaukasus und nach Tiflis gelegen, einst "ein wichtiger Vorposten des Osmanischen Reiches und des Zarenreiches". Ein Ort, an dem der Handel blühte und Perser, Armenier, Griechen, Georgier, Kurden lebten. Nun, in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, ist Kars ins Abseits gerutscht, seine Einwohner sitzen vor dem Fernseher, während die Armut zugedeckt wird von Schnee.

Denn es schneit und schneit, als der Dichter Ka ankommt. Nach einigen Jahren, die Kerim Alakusoglu, wie er eigentlich heißt, in Frankfurt gelebt hat, fährt er nach Kars, wo sich Selbstmorde von jungen Frauen häufen. Liegt es daran, dass Kopftuch tragenden Frauen der Zutritt zu Schulen und Universitäten verboten ist? Oder gilt für dieses Land: "Männer verschreiben sich der Religion, Frauen bringen sich um." Ka kommt um zu recherchieren, doch seine Antwort auf die erste Frage ist eine Lüge. Er ist nämlich kein Journalist. Eigentlich ist er nach Kars gekommen, weil er sich für Ipek interessiert, die er von früher kennt und die inzwischen geschieden ist.

Gewalt und Gedichte

Es gibt so viel Schnee (türkisch Kar!), dass Kars bald abgeschnitten von der Umwelt ist, auch Ka. Er ist hier fremd, weil er aus dem politischen Exil in Deutschland kommt und weil er ein Bürgerlicher aus Istanbul und die Hauptstadt buchstäblich meilenweit entfernt ist. Umso misstrauischer wird er beobachtet, von allen Seiten. Ein Atheist ist da, diese Neuigkeit macht unter den Islamisten schnell ihre Runde, und der säkularen Regierung gefällt es nicht, dass er Fragen über die Selbstmorde stellt. Als Ka, der aber wenig an Politik sondern vor allem an Dichtung, Liebe und Glück Interessierte, zufällig zum Zeugen eines Mordes wird - ein Schuldirektor wird erschossen -, ist er schon längst auch politisch involviert. Und bald führt eine Theateraufführung auf der Bühne zu blutiger Wirklichkeit, schießen Soldaten auf islamistische und kurdische Zuseher, verschleppen und foltern sie, erlaubt die Ausnahmesituation der Wetterlage einen Ausnahmezustand ...

Skurrile, unwirklich erscheinende Episoden und Phänomene wie etwa die Grenzstadtzeitung, die bereits im vorhinein schreibt, was passieren wird, und Begegnungen mythischer oder mystischer Art wechseln mit ironischen Beschreibungen und wilden politischen Diskussionen - die Liebesgeschichte von Ka zu Ipek soll die Geschichte zusätzlich zusammenhalten, muss aber in diesem Umfeld scheitern.

Während die Stadt nicht nur im Schnee, sondern auch in Gewalt versinkt, fällt Ka ein Gedicht nach dem anderen zu, hat er den Eindruck, dass die Texte auf einen tieferen Sinn verweisen, kommen ihm, dem Atheisten, religiöse Gefühle. Angesichts der Einzigartigkeit der Schneeflocken staunt er über seine aufflammende Sehnsucht: ein Individuum zu sein, nicht in der Masse aufgehen zu müssen, aber dennoch an etwas glauben zu können.

Westen und Osten

So auffällig westlich die literarischen Topoi, der Schnee, das Hotel, das Theater, Namen, auch sind (Kafka und Thomas Mann lassen grüßen), so nahe ist Orhan Pamuk in seinem jüngsten Roman "Schnee" aber der politischen Wirklichkeit seiner Heimat Türkei. Pamuk leiht der türkischen Vielstimmigkeit Gehör, in den vielen Figuren, die in diesen drei Tagen durch die Stadt geistern und ihre teils unheimlichen Rollen spielen. Säkularisten und Islamisten reden auf Ka ein ("Aber sei dir klar, dass keiner glücklich werden kann, dem glücklich zu sein reicht!"), Atheisten und Gläubige ("Ein Mensch muß zuerst Westler sein, um Atheist werden zu können."), Befürworter der Kopftuchpflicht ("Renn doch nackt in dein Europa, splitterfasernackt!") und deren Gegner, Europabefürworter und Europagegner ("Ich denke nicht daran, die Europäer mein Leben lang nachzumachen und mich schlechtzumachen, weil ich nicht so bin wie sie."), Junge und Alte, Männer und Frauen: "Der Augenblick des Selbstmords ist der Zeitpunkt, zu dem die Frauen am besten verstehen, daß sie alleine und dass sie eine Frau sind."

Alle Gegensätze und Spannungspaare finden in diesem Roman Platz, ohne einander zu überstimmen: Phantasie und Vernunft, Ost und West, Traum und Wirklichkeit, Liebe und Gewalt, Poesie und Politik, Ironie und Tragik. Die vielen dichten Dialoge über Glaube, Liebe und Politik gipfeln in einer Versammlung, in der es gilt, eine von Islamisten, Kommunisten, Kurden und einem "Denunzianten aus bester Absicht" gemeinsam unterschriebene Erklärung für die Frankfurter Rundschau über die Vorgänge in Kars abzugeben. Was will man dem Westen mitteilen? "Wir sind nicht dumm! Wir sind bloß arm! Wir haben das Recht, auf dieser Unterscheidung zu bestehen." Diese Botschaft wäre einem Jugendlichen wichtig, immer wieder wird er gestört von der entzweienden Zwischenfrage, welches Volk er meine, wenn er "wir" sagt.

Zweifel und Erkenntnis

Mit Kas Tod verschwinden - ganz postmodern - auch seine Gedichte. Ich-Erzähler Orhan sucht sie und erzählt und kommentiert die Geschichte Kas. Die Figur des Erzählers dient dem Autor auch, den Leser vor einer verharmlosenden Lektüre seiner mit viel Ironie beschriebenen Charaktere zu warnen. Keinesfalls soll er eine Lektürehaltung einnehmen, die das Verhältnis Europas zur Türkei widerspiegelt: "Die öffentliche Meinung in Europa ist nicht unser Freund, sondern unser Feind. Nicht weil wir ihr Feind sind, sondern weil sie uns instinktiv gering schätzen."

Diese Geringschätzung bringt eine der Figuren gegen Ende des Romans auf den Punkt: "Wenn Sie mich in einem Roman vorkommen lassen, der in Kar spielt, dann möchte ich dem Leser sagen, er soll nichts von dem glauben, was Sie über mich, über uns alle geschrieben haben. Keiner kann uns aus der Ferne verstehen.' Es glaubt sowieso keiner so einem Roman.' Doch, sie werden das glauben', sagte er erregt. Um sich selbst klug, überlegen und human zu finden, werden sie glauben wollen, dass wir lächerlich und nett sind und dass sie uns so verstehen und sympathisch finden können. [...]'"

Für seinen letzten Roman "Rot ist mein Name" erhielt Pamuk 2003 den Impac Dublin Literary Award. Schon mehrmals wurde der Autor als Anwärter für den Nobelpreis genannt. Nach der Lektüre seines jüngsten Romans "Schnee" weiß man warum, aber man weiß nicht mehr, was die Türkei ist. Aber vielleicht ist man ihr gerade mit dieser Erkenntnis ein Stück näher gerückt.

Schnee

Roman von Orhan Pamuk

Aus d. Türk. v. Christoph K. Neumann Hanser Verlag, München 2005. 513 Seiten, geb.,

e 26,70

Veranstaltungstipp:

Literatur im März

Islam und Abendland - der Ursprung des

Westens

10.-13. 3. 2005

Kunsthalle Wien

Eintritt frei

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