Vergessenes unvergessen

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Catarina Carstens Prosastücke "Glück und Glas" teilen Erinnertes in präzis zugespitzten Sätzen mit.

Wenn man älter wird und schreibt von früher, denken manche Leser: ach ja - nun kommt die Vergangenheit. In der Gegenwart ist nichts mehr los, von der Zukunft zu schweigen. Von wegen - das mit den Jahren wachsende Er-innern ist eines der überraschendsten Abenteuer, das es zu bestehen gilt. [...] Der Augenblick kommt, in dem man mit Sicherheit weiß: so war es, so war es. Das lang Vergessene-Unvergessene taucht auf, ist. [...] Wo wird denn das alles aufbewahrt, um plötzlich da zu sein und uns zu verwirren?"

Bis in das Herzinnere

Ja, genau so ist es - Catarina Carstens "lebendige Erinnerung" mit dem trefflichen und zugleich vielsagenden Titel "Glück und Glas" löst ihre aus tiefem Wissen kommenden Reflexionen auf das Schönste und Bewegendste ein. Ihre neuen Prosastücke, die dieser Band versammelt und die überraschend Er-Innertes seit frühester Kindheit und Jugend seit den 1920er Jahren in präzis zugespitzten Sätzen, mit der unverwechselbar erhellenden Lakonik Carstens und in einer wie durch Kristallwasser veredelt klaren Form mitteilen, geben Einblick in so etwas wie die Präge- und Formkräfte ihrer Persönlichkeit - "bis ins Schädelinnere", wie es einmal heißt, und man darf hinzufügen, bis in das Herzinnere. Ihrem geliebten er-innerten Großvater, dem Buchhändler und Rosenzüchter, sind diese Texte gewidmet - neben Vater und Mutter ihr herausragender Lebenslehrer.

Mit ihrem neuen Sammelband setzt Carsten sozusagen ein Schreibprojekt fort, das sich in den letzten Jahren intensiviert hat und sich schon vor drei Jahren in der Publikation "Auf Nimmerwiedersehen. Berliner Kellernotizen" (2001) dokumentierte. So nannte Catarina Carsten die späte Veröffentlichung ihrer Tagebuchaufzeichnungen aus den Berliner Kriegsjahren vom Dezember 1943 bis April 1945. Die inzwischen verblasste Tintenschrift ihrer damals geschriebenen Notizbücher fand sich - unversehens, zufällig - wieder und rief nach all den vielen Jahren "Vergessenes-Unvergessenes" augenblicklich ins Gedächtnis. Menschen, Orte, Gerüche, Vorkommnisse, Bilder des Schreckens, aber auch Bilder von gewalt- und wirklichkeits-überwindender Kraft, etwa in der Anschauung der Schönheit von Orchideen, im Durchfühlen der rettenden Kraft des poetischen Wortes und der erkenntnisspendenden Kunst.

War das Ich?

Nun aber forschte Catarina Carsten noch genauer - kritisch, selbstkritisch -, nach sich selbst: "War das Ich, die hier einmal gewohnt hatte?" Gar nichts hat sie dabei mit einem heute modisch gewordenen, ja oft peinlich narzisstischen und "interessanten" Erinnerungsgeschäft zu tun, bei dem vergangenes Geschehen ungefiltert und perspektivelos herangekarrt wird, sondern im Gegenteil. Sie weiß um die Gefahren des Sich-selbst-Belügens, des goldenen Beschönigens ebenso wie des schwärzlichen Mythisierens - ihre Texte haben etwas völlig anderes im Sinn: Die über 30 Kurzprosawerke, eine erzählerische Perle nach der anderen, sind eine großartige Spurensuche nach ihrem eigenen inneren Werden, nach ihrem Gewordensein und Sein heute sowie nach der oft heimlich, aber bestimmt und nachhaltig formenden Welt ihres Ichs.

Chagallsche Wanderungen

Das Buch spannt - trotz seiner Kompaktheit - einen weiten zeitlichen und inhaltlichen Bogen. "Davor", so nennt sich die Ouverture, in der in einer Tagtraumsequenz einige für Catarina Carsten prägende Personen und Erscheinungen auftreten - Eintritt in eine vergessen-unvergessene Welt Berlins und des alten Deutschland. Und der Traumbogen schließt sich mit einem bedrängenden und berührenden "Streifzug durch B." Simultan und traumhaft verschoben sind die Bilder: Vater und Mutter sprechen, "Kristallnacht"-Geklirre, Dichterin-Sein als zukünftiger Beruf?, ein Lehrer, Angst, Erschrecken, bekannte-unbekannte Bäume, Skulpturen, Kirchen und fast Chagallsche Wanderungen durch die Stadtlandschaft ...

Woher das Weltvertrauen?

Aber zwischen diesem "Davor" und dem "Streifzug durch B." werden Fragen aller Art entfaltet, die freilich nicht als Fragen daherkommen, sondern als lakonisch erzählte Prosa-Stücke: Woher kommt denn das Weltvertrauen, woher das Angenommensein, das Geliebt- und Verstandenwerden, woher denn die Vorstellungen etwa von Helligkeit, woher ein lebendiger Begriff von Alltags-Heroismus, woher denn die Liebe zu Lebendigem, zu Schönheit und Einfachheit, woher denn die Vorstellung von Dezenz und Empathie, woher denn die Liebe zum Klang und woher das untrügliche Sprachgefühl, woher die Abneigungen, die Skepsis dem Lauten, dem Dröhnenden gegenüber? Aufblitzende Erinnerungen also, weil sie lebensentscheidend wurden: Worte und Handlungen von Vater und Mutter, des Großvaters, des zutiefst verstehenden Lehrers Heun, eines Feinkosthändlers, eines einfachen Schusters und die Erinnerung an die Helligkeit seiner Schusterkugel. Das Bild einer Haushälterin, ein Sommerwind an der Küste, ein Stallmeister und der Geruch und die Kraft von Pferden, eine Fremdsprachen-, eine Sportlehrerin, ein Religionslehrer, niedere Mansarden hier und dort, ein Hölderlin-Gedicht, dessen Klang und Existenzaussage, Antlitze und Gesichter, Worte, Wörter und Sätze, Gesten, Gerüche - mit ihnen allen sind auf die eine oder andere Weise Formkräfte des schreibenden und er-innernden Ichs verbunden. "Paradiese der Erinnerung"? Ja, das auch, aber auch anderes und unentwegt Wirksames, Präsentes. Ein Lächeln, ein Erschrecken angesichts von Vanitas.

Glück und Glas

Lebendige Erinnerung

Von Catarina Carsten

Edition Doppelpunkt, Wien 2004

130 Seiten, kart., e 15,00

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