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Vom Wesen christlicher Dichtung

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Die Frage nach dem Wesen christlicher Dichtung ist oft gestellt worden und hat die verschiedensten Lösungen gefunden. Man hat die Antwort von der Wahl eines christlichen Stoffes her gesucht oder in der Herausarbeitung christlichen Glaubens- und Geistesgutes. Allein diese Bestimmungen, wenn sie auch manchmal zutreffen mögen, sind teils zu äußerlich, teils zu rational — es bleibt von ihnen aus ein allzu enger Raum übrig. Auch die bekannte Antwort: „Es gibt keine christliche Dichtung, es gibt nur den christlichen Dichter“, befriedigt nicht ganz. Wohl ist es richtig, und dies will jener Ausspruch besagen, daß Dichtung nur dichterischen Gesetzen unterliegt, sich als Dichtung ausschließlich durch ihr Verhältnis zu diesen erweist, also das Christliche erst von der Persönlichkeit des Dichters hinzukommt. Aber damit ist die Wesensfrage nur vom Werk auf den Autor verschoben, somit ins rein Subjektive. Auf dieser Linie kommen wir demnach nicht weiter.

Doch es gibt nun im Blick auf unser Thema noch eine andere Fragestellung, eine ungleich tiefer und weiter 'reichende — es gibt die Frage, ob nicht im Dichterischen selbst ein christliches Element steckt, eine vom christlichen Stoff- und Geistesgut im engeren Sinne unabhängige, zarte und geheimnisvolle Hinordnung auf das Christliche, ähnlich jener, welche die Theologen von der menschlichen Seele behaupten, wenn sie von einer anima christiana naturaliter sprechen — ist es nicht beispielsweise auffallend, daß sich alle wahrhaft große Dichtung selten oder niemals mit erfolgreichen, vom Glück begünstigten Gewalten beschäftigt, daß sie im Gegenteil eine unwiderstehliche Neigung zeigt, sich der Unglücklichen, der Verirrten und Gescheiterten anzunehmen? Ja, daß diese Neigung ihren Gipfel dem Schuldigen gegenüber erreicht? Denn ist nicht Scheitern und Schuldigwerden geradezu die Voraussetzung für den Helden der gewaltigsten dichterischen Form, der dramatischen? Kein Zweifel, das Geglückte, daa Unangefochtene, Heilgebliebene, also das wohlgeratene und erfreuliche Geschick reicht dem Dichter wenig Möglichkeiten dar, — Sieger im Lebenskampf, Sieger der Weltgeschichte lassen die Muse kalt. Es sind die tragischen Gestalten und Geschicke im Einzelleben wie im Völkerleben, welche die großen Gesänge rufen. Wem die Welt ihre Anerkennung versagt, den umschlingt die Dichtung, sie findet einen Zauber darinnen, sich dem Verfemten zu widmen, das Verurteilte — auch das schuldhaft Verurteilte — auf seinem wirren Weg zum Abgrund zu begleiten, das Untergehende und Sterbende ans Herz zu nehmen. Denn

„Was unsterblich im Gesang soll leben

Muß im Leben untergehn ..."

(Schiller, „Die Götter Griechenlands")

Dies aber bedeutet nun nichts anderes, als daß im Reich der Dichtung eine Umkehr der sonst in der Welt herrschenden Wertungen und Gesetze stattfindet — eine souveräne Umwertung. Sie liegt in derselben Richtung wie die, welche das Christentum vollzogen hat. Denn dieses, auf eine ganz einfache Formel gebracht, bedeutet doch die Anerkennung einer weithin gescheiterten und verlorenen Welt und zugleich die Liebe zu dieser gescheiterten und verlorenen. Oder noch schlichter ausgedrückt: die Erscheinung Christi besagt, daß von Gott her ein für allemal ein Strich unter den Menschen des reinen Erfolgs einerseits und die Welt der reinen Gerechtigkeit und Vergeltung anderseits gezogen und das erlösende Erbarmen auf den Thron erhoben wurde. Nicht als ob vom Christentum her eine Abwertung des Sündenernstes stattfände, sondern stattfindet eine innige Liebe zum sündigen Menschen, über dessen Umkehr nach dem Evangelium mehr Freude im Himmel sein wird als über neunundneunzig Gerechte — stattfindet eine volle, rückhaltlos Abwendung von allem hochmütig-richtenden Moralismus und Pharisäertum. Der Pharisäer, als der einzige Menschentyp, dem Christus unnachsichtig begegnete, ist die unchristlich Gestalt auf Gottes weiter Erde — sie ist aber auch die unpoetischeste Gestalt. Das sanfte und strenge Gesetz des Heilands: „Richtet nicht“, es ist auch das jeder echten Poesie ursprunghaft eingegossene Gebot. Die Muse verurteilt niemand, sie begleitet lediglich den Schuldigen in die Konsequenzen seiner Tat: auf der seelischen Erschütterung, nicht auf der moralischen Verurteilung liegt das Schwergewicht jeder poetischen Gestaltung.

So erscheint auf der ganzen Linie die liebliche Muse der Dichtung als eine zwar nicht voll durchchristlichte Gestalt, aber doch als eine von ihren eigenen tiefsten Impulsen her unbewußt aber unwiderstehlich auf das Christliche Hingeordnete, von einem zarten gleichsam adventlichen Licht umflossen. Damit aber erweitert sich der Kreis der uns hier angehenden Dichtung um ein Unendliches. Er reicht nicht nur weit in den vorchristlichen Baum hinein, sondern auch über den noch christlichen, ja über den scheinbar nicht mehr christlichen hinaus. Denn wie nichts so verräterisch die weithin reichende, schreckliche Entchristlichung und tiefe Unerlöstheit der Gegenwart bezeugt, als ihre unselige Neigung zu moralischen Verdammungen, ebenso unerschütterlich bleibt echte Poesie die große Liebende der Schuldigen und Verlorenen. Auch im grenzenlosen Dunkel unserer eigenen Tage bekennt das Urgesetz der Poesie die adventliche Menschenseele: die anima Christiana naturaliter ist s, aus der jede echte Dichtung strömt.

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