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KURT KLINGER

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Ich war sehr unzufrieden mit der Sonne. Kaum weckte sie mich gegen dreizehn Uhr, war sie nach kurzer Zeit in der Richtung des Abends vom Himmel verschwunden. Die Tage wurden mir zu kurz.

Es müßte gelingen, das Licht der Sonne früher auf die Erde zu lenken, dachte ich. Ich begann zu experimentieren. Ich stellte über dem Kopfende meines Bettes eine Weckeruhr auf — eins von den alten Modellen, die während des Schrillens zentimeterhoch springen und mit unsichtbaren Fäusten um sich schlagen. Das Läutwerk, auf zwölf Uhr eingestellt, rasselte pünktlich. Bei geschlossenen Augen dachte ich mit allen meinen Kräften an das Licht. Dabei kam mir ein Sonnenaufgangsbild zustatten, das früher über dem Schreibtisch meines Großvaters hing: Miramare, von Bändern rosiger Lämmerwolken geküßt; Meeresjungfrauen klammerten sich ans Heck zweier Boote, die hartnäckig aufeinander zusteuerten, offenbar weil die Mannschaft aus Sehnsucht nach den Nereiden über Bord gegangen war. Die Mädchen wölbten sich dezent bis über den Schuppenansatz der Sonne entgegen. Mit dieser Erinnerung vermochte ich den Mangel an eigener Sonnenaufgangserfahrung einigermaßen wettzumachen.

Aus Miramares Farben formte ich in meinen Gedanken einen kleinen glühenden Ball und ließ ihn in der Breite eines noch vom Schlaf verengten Irisbogens über der mattgrauen Erdenlinie erscheinen. Langsam erstieg er hellere Stufen, und Schwärme weißer Vögel gingen wie große schwebende Schirme vor ihm auf. Sie umspielten ihn mit ihren Flügeln. Sie stießen sich den Ball mit ihren Schnäbeln zu, sammelten sich zu einem von Gesang durchbebten Wolkenrücken und trugen ihn hoch, weit höher, als das Gebiet der Gedanken.

Ich öffnete die Augen — es war geglückt. Mein Zimmer lag im vollen, gelben Leuchten, wie sonst erst um dreizehn Uhr.

In den nächsten Tagen versuchte ich, den Sonnenaufgang um mehr als eine Stunde vorzuverlegen. Es gelang mir, die Zeitgewinne so gering zu halten, daß das Licht von einem zum anderen Mal nicht merkte, daß es früher erschienen war — und doch hatte ich zuletzt den Arbeitstag um volle sechs Stunden verlängert.

Nun war es möglich, Ordnung zu schaffen. Die Stunde, zu der sich früher die Sonne erhoben hatte, nannte ich Mittag. Was früher Tag war, hieß jetzt Nachmittag. Der Teil der Nacht, der neu zum Tag hinzugekommen war, hieß Vormittag. Ich freute mich dieser nie dagewesenen, zugleich phantastischen und vernünftigen Namen. Das Schönste aber war, daß mich ein Blick auf die belebten Straßen überzeugte, daß meine Erfindung auch von anderen bemerkt wurde. Die Menschen wirkten heiter und verjüngt. Sie grüßten — was sie sonst nie taten. Ich habe ihnen ein zweites Leben geschenkt.

Ist es unbescheiden, dafür ein Denkmal zu erwarten?

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