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Die heilige Stille

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Es war Im Winter 1944. Wir lagen am Fuß des Apennins, an der Straße, die bei Castel Bolognese vorbeiführt. Der Dezember war auch in Oberitalien empfindlich kalt, und' eine dünne Schneedecke hatte den Jammer des Mordens ein wenig verhüllt. Der Krieg befand sich in seinem letzten Stadium, und das bittere Ende war für niemand mehr zweifelhaft. Zu eindeutig lagen die Machtverhältnisse. Wir hatten uns zwei Meter tief in die Erde gegraben. Pausenloses Feuer aller Kaliber hüllte uns seit Wochen ein. Ständig waren die fürchterlichen Jagdbomber über uns. Nur des Abends, wenn die frühe Dämmerung einfiel, und des Morgens, wenn der junge Tag heraufstieg, wurde es für kurze Zeit ein wenig stiller. Das waren die Augenblicke, in denen wir schnell unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen mußten. Dann kam wohl auch zuweilen der Melder aufgeregt ins Loch hereingesprungen und brachte Post und Verpflegung. —

Ansonsten krallten wir uns in die bebende Erde und blickten angstvoll in die bleichen, schmutzigen und bärtigen Gesichter.

„Wie lange haben wir uns schon nicht gewaschen, Richard?“ Richard war MG-Schütze eins und unser Spezialist für die Zeit.

„Siebenunddreißig Tage, Karl!“

„Nun müssen wir doch bald abgelöst werden!“

Richard lacht mit Bitterkeit.

„Hier löst uns nur der Tod ab!'

Ein gewaltigej. Krach verschluckte seine letzten Worte. Instinktiv preßten wir uns an die Erde, und schon fiel Sepp herab und verschmolz mit uns zu einem Knäuel. Feuerüberfall! Sepp, mein MG-Schütze zwei, hatte oben Wache gehalten, da es schon etwas ruhiger geworden war. Nun diese Bescherung! Sie mußten es direkt auf unser Loch abgesehen haben. Alles dröhnte, bebte und zitterte. Ganze Erdbrocken kollerten herunter. Als der Spuk vorbei war und wir uns vorsichtig erhoben, sahen wir Dutzende Einschläge rings um unseren Standort. Eben kam von hinten der Melder vorgekrochen.

.Schwein gehabt“, keuchte er. .Da ist die erste Weihnachtspost, und mit der Waffenruhe ist's nichts!“

.Was für eine Waffenruhe?“

.Unser General hat den Alliierten zum Heiligen Abend eine vierundzwanzig-stündige Waffenruhe angeboten. Wurde abgelehnt.“

.Wieso? Warum? SicheT?“

Der Melder zuckte nur die Schultern. Dann war er fort. Er hatte noch elf Löcher zu betreuen, und bald würden drüben unzählige Scheinwerfer aufflammen, die auch die Frontnacht zum Tage machten.

.Mensch, das war was gewesen!“ sagte Richard.

.Einen ganzen Tag Ruhe! Schlafen, essen, schreiben... alles in Ruhe! Vielleicht sogar einmal waschen und rasieren I Das war ein Weihnachtsgeschenk geworden!“

»Ja“, pflichtete Sepp bei, .wenn schon keine heilige, so doch eine stille Nacht! Was verlangt unser Herz mehr?“

.Leutln“, sagte ich, »wer weiß, ist es wahr; vielleicht gibt's doch noch eine Überraschung!“

Der nächste Tag war der Heilige Abend. Mittags kam der Befehl nach vorne, ab 16 Uhr nicht mehr zu schießen, auf feindliches Feuer jedoch zu antworten. Erhöhte Wachsamkeit!

.Blödsinn“, brummte Sepp, „so stur ist kein Offizier, in der Heiligen Nacht einen Angriff zu starten.“

Wir aber harrten gespannt der kommenden Dinge. Einstweilen war das Feuer eher stärker denn schwächer. Langsamer als sonst kam der Abend. Es war nebelig und kalt. Ab 16 Uhr schwiegen unsere Gewehre, und wir lauschten ...

Da .. .1 Wirklich ...! Auch drüben wurden die Abschüsse geringer. Ein MG-Stoß ...! Noch einer.. .1 Einzelschüsse .. .1 Nim nichts... Wirklich nichtsl Stille...

Es war unheimlich. Wir blickten auf die Uhr. Eine um die andere Minute verging und es rührte sich nichts. Nun war's doch wahr geworden: stille Nacht... Herrliches Himmelsgeschenk für uns arme Frontsoldaten! Noch immer mißtrauisch, krochen wir aus dem Fuchsbau und dehnten und streckten uns.

Da kam auch schon der Melder. Gerade, aufrecht, einen Mordssack auf dem Rücken. Weihnachtspakete!

»Um zweiundzwanzig Uhr sollt ihr drei beim Chef sein!“

Unser Kompaniechef war ein blutjunger Leutnant. Sein Gefechtsstand lag vierhundert Meter hinter uns im Keller eines Hauses. Einmal war ich in den sechs Wochen schon hingekrochen, und mit Schaudern dachte ich an den endlosen Weg in Ackerfurchen und Straßengräben, vorbei an toten Menschen und Tieren. Nun gingen wir aufrecht und waren in wenigen Minuten bei dem zerschossenen Haus. Ganz wohl fühlten wir uns bei dieser Gangart jedoch nicht, und mißtrauische Blicke gingen durch die Nacht zum Feind, der heute zum erstenmal seine Scheinwerfer nicht aufgedreht hatte.

Dann standen wir im Keller. Kerzen brannten an einem kleinen Bäumlein, Zucker- und Backwerk lag auf dem Tisch, es roch nach Weihnachten. Heißer Tee wurde in richtigen Tassen gereicht, und von irgendwoher hatte man eine Laute aufgetrieben.

So sangen wir unsere Weihnachtslieder, und ich glaube, wir haben keine der lieben Melodien vergessen. Die Augen wurden feucht, Sinn und Herz aber flogen nach Hause zu Frau und Kind, zu Eltern und Geschwistern. Bald war die schöne Stunde um, auch die anderen sollten an die Reihe kommen. Sepp bekam noch das Eiserne Kreuz, Richard eine Extraflasche Wein, mich rief der Leutnant zu sich und sagte: „Karl, du hast drei Kinder daheim. Heute gehen deine Papiere weg zur Division. Du sollst auf einen Offizierslehrgang nach Bayern. Paß auf, laß dich in den nächsten Tagen nicht erschießen.“ Ich war glücklich.

Als wir den Unterstand verließen, war der Nebel gewichen. Helle Sterne glänzten am Himmel. Langsam, fast feierlich gingen wir zu unserem Loch zurück.

„Ich meine“, sagte Richard, „unser Leutnant ist zwar jung, aber sein Herz hat er doch am rechten Fleck.“

„Ja“, erwiderte Sepp, „wir haben doch noch gegen alle Erwartung Ruhe und sogar ein Stückerl Weihnactitsfrieden ins Herz bekommen.“

Ich nickte stumm.

Dann störte nichts mehr die heilige Stille jener seltsam unwirklichen Nacht an der Front. —

Es blieb still, als der Morgen kam. Still war es den ganzen Tag, der Christtag heißt. Dann aber, um 16 Uhr, begann es drüben wieder zu rattern. Mißmutig ergriffen wir unsere Gewehre und stiegen mit Verbitterung in unsere Erdlöcher. Das Höllenkonzert hub aufs neue an. —

Zwei Tage später lagen Richard und Sepp schwer verwundert von Granatsplittern neben mir. Mit zitternden Händen legte ich meine und ihre Verbandspäckchen um die hoffnungslos zerfetzten Leiber. Ein Schützenpanzerwagen brachte sie Stunden später auf den Verbandsplatz. Mich aber rief ein Befehl in der nächsten Nacht zum Kompaniegefechtsstand. Diesmal kroch ich wieder. Die Hölle war los, und ich brauchte lange. Nur nicht jetzt noch eine verpaßt bekommen! In Schweiß gebadet erreichte ich den Keller. Um das Haus dröhnten die Einschläge.

„Karl“, sagte der Leutnant, „fertigmachen. Es geht ab in die Heimat!“

„Richard und Sepp?“

„Sind schon tot.“

Das war ein bitterer Tropfen in den Becher der Freude. Die große Stille hatte sich über die beiden gesenkt, die Nacht des Todes. In diesem Augenblick glaubte ich mehr denn je daran, daß sie auch eine heilige Nacht ist, in der das Auferstehungslicht neuen Lebens leuchtet.

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