6605390-1954_15_06.jpg
Digital In Arbeit

Der Oeneral

Werbung
Werbung
Werbung

Im Hauptquartier war es still geworden. Der General blickte sich in leichter Verwunderung um wie einer, der nach langen Jahren heimkehrt, das Haus verändert findet und die Menschen nicht mehr erkennt, die in ihm wohnen. Die Maße schienen sich gedehnt zu haben, der Stollen war höher, er war breiter und länger, als er ihn in Erinnerung hatte, und es waren doch nur zwölf Stunden vergangen, seit er das letztemal hinabstieg. Er selbst glaubte geschrumpft zu sein unter der Last, die er seit Wochen getragen. Seine Haare waren weiß — von der Weiße, wie sie Gräser haben, auf die kein Licht fällt. Ihre Farbe spielte in fahles Gelb. Er überdachte, was er noch zu bestellen hatte.

Aber es war jetzt niemand da, mit dem er hätte sprechen können. Er hatte sie zuletzt alle in den Kampf geschickt. Und es war doch noch vieles zu sagen. War es möglich, daß niemand aufstand und fragte, wohin er die Division geführt hatte?

Nichts; Stille; Schweigen. Kein Stolz, kein Entsetzen, kein Vorwurf und keine Zustimmung. Diese Stille floß in ihn hinein und füllte das Gefäß seines Willens wie mit Spülwasser. Er betrat die Zelle seiner Funkstation, hörte dem Ticken der Apparate zu, las die Funksprüche, entschlüsselte selber. Ein einziger Funker saß noch an den Geräten. Er schickte auch ihn fort. Sein Schritt verklang auf der Betontreppe.

Mit sicheren Bewegungen schaltete der General und tippte einige „V“ in den Aether hinaus. Auch das hatte er einmal gelernt, ebenso wie das Schießen mit einem Maschinengewehr, das Werfen von Handgranaten, das Reiten und das Befehlen.

Victoria, Victoria, Victoria ...

Er schloß an: „Sendet Klartext...“

Sendet Klartext, denn die Maskerade hat ein Ende. Alle Wichtigtuerei mit neuen Waffen, Motoren, Giftgasen, Mikroben, Panzertypen, Filtern, Chiffren und dergleichen hat ein Ende. Wir klappen das Visier auf, wenn es zum letzten Treffen geht.

Der General rief.

Summen im Kopfhörer. Der Zeiger beeilte sich mitzukommen, schlug aus, zitterte, zuckte wie ein menschliches Herz. Ein Ton pfiff herein, auf- und abschwellend. Der General ging zur Schwebelücke, peilte den Ton an, bis er in seiner Mitte, im Tief zwischen den Wogen, unhörbar wurde. Auf neuer Wellenhöhe, jenseits der Schwebelücke, pulste er nun schnell und leicht.

„FD9 de DEO — Ibis von Nord ausgefallen, antwortet nicht mehr — kommen.“

Wieder zuckte der Zeiger und bestätigte die Meldung, daß Ibis, das letzte Regiment der Division Nord, nicht mehr erreichbar war — überrollt wurde.

„Trennung, richtig, Trennung...“

„Korrespondenz-Anfang...“ Nicht geschwätzig werden! „DEO schwenkt ein auf SAF, all right, Schluß der Korrespondenz.“

Zirpen: „Repeat all!“

Der General schaltete sich wieder ein. Die Funker draußen wußten nicht, daß der Befehlshaber selbst an der Leitstelle ihres Sternverkehrs saß und seine Kommandos erteilte, im Drange, etwas auszusagen, was sich nicht aussagen ließ — die Schwebelücke, sie wußten vielleicht auch nicht, daß die Sternarme Ost und Süd bereits schwiegen... doch! das wußten sie wahrscheinlich, sonst wären sie nicht Divisions- und Regimentsfunker geworden.

Stärker piepste es auf, mächtiger, dröhnend, drohend. Ein Signal nur, kein Satz mehr: „FGA — FGA — FGA — FGA ...“ Das Notsignal, wenn keine Zeit mehr bleibt, ein” Wort zu tasten, eine Fünfergruppe, wenn der Funker zum Karabiner greift, um sein Leben zu retten.

Der General antwortete. Drüben die Funkstelle wartete nicht, setzte von neuem ein, diesmal verzweifelt „FGA ...“ Die Zeichen flogen, verwischten sich, wurden ungenau. Ein zweiter Arm des Sterns mischte sich darunter. „FGA ...“, das war DEO!

Und ebenso jäh trat Stille ein. Die Divisionsstäbe waren auch im Westen überrollt. Es half wenig, nun in das Leere hinaus den Spruch zu geben, die letzte Aussage des Kronzeugen. Wie Wasser rauschte es in den Kopfhörern: die Leere, das Nichts, der Stern Erde selbst, dessen Atmosphäre in den Hörern vernehmbar wurde. Der Stern Erde hörte nicht, der Stern Erde nahm kein Kommando auf. Er war von elementarer Unbotmäßigkeit.

Seine Stimme war ein Knacken, Prasseln, Pfeifen, Surren, Rauschen.

Ungeschickt, ohne Uebung, tastete der General Wort für Wort. „Ich habe nur die Befehle ausgeführt, die mir gegeben wurden, weil ich glaubte, daß es besser sei, selbst das Schlechte zu tun, das Sinnlose, das Fluchwürdige, als einen Befehl nicht zu erfüllen. Ich glaube, daß alles Böse seine Strafe findet auf Erden und ausgemerzt wird bis zur Wurzel hinab. Ich glaube, daß es dem Bösen nie gelingen wird, seinen Fuß zu setzen auf den Nacken des Gerechten, aber ich glaube auch, daß alles zu Ende geht, wenn auf den Befehl der Gehorsam verweigert wird. Ich habe keine Krume Brotes verlangt für mich selbst und keinen Augenblick lang den Tod gefürchtet. Möge Gott mir verzeihen.“

Er schaltete um. Der Funkspruch an den Stern Erde war zu Ende. Wer jetzt noch nicht verstanden hatte, der mußte sich gedulden, bis der Stern Erde zur Bestätigung wiederholte.

„Repeat all!“

Zeichen für Zeichen nahm es der General auf „Repeat all!“ Die letzte Division im Norden gab es durch. Sie hatten nicht verstanden. Repeat all: den Krieg, die vielen Gräber, die Millionen Einschläge, die Millionen Schreie, den Wind über den Schneefeldern von Narvik, Petsamo und Moskau, das Ersticken in den U-Booten, das Kentern der Schiffe, das Heulen abstürzender Flugzeuge, das Zählen der Verwundeten auf den Operationstischen, den Durst der Libyschen Wüste, die Züge der Gefangenen und der Vertriebenen, Fixpunkte entlang den Rückzugsstraßen, das Sterben in den Lagern, die Entwürdigung, die Tränen, die Trauer — nichts verstanden, repeat all!

„YRW für DD6 — YRW für DD6 — kommen!“

Keine Antwort. Dann, verweht, leise: „Repeat all! Repeat all!...“ Es nahm kein Ende.

Der General legte den Kopfhörer vor sich auf den Tisch. Was nun noch zu tun blieb, war allerdings wenig. Die Artillerie hatte Munition, die Regimenter kämpften selbständig. Er hatte Befehl gegeben, die Nebelwerfer im Stadtgebiet nicht mehr einzusetzen. Nun galt es, die privaten Folgerungen zu ziehen. Die Lose lagen bereit, schwarz oder weiß. Er verließ das Hauptquartier und stieg über die betonierten Stufen hinauf zur Oberfläche der Erde. Es war sehr still in dem festen Stollen, man stand wie in einer Röhre,

durch die Wasser kommen konnte. Der General trat an eine der blauen Notlampen heran, drückte auf einen Knopf. Das Licht ging aus. Eine sinnreiche Vorrichtung: Man ging und hinterließ Finsternis von Abschnitt zu Abschnitt. Allmählich wurde die Schlacht hörbar. Der General bog ab vom geraden Weg und stieg hinab in die Krypta der Burgkapelle, wo die erzenen Särge standen. Dort war das Schweigen von jeher heimisch, dort überraschte es nicht, dort beschwerte es nicht.

In der Kapelle brannte das Ewige Licht. Es war eine alte Kapelle. Man schritt im Mittelgang zwischen den Fresken eines unbekannten Italieners, Bilder aus der Apostelgeschichte, Paulus vor den Mauern von Damaskus, Petrus in Rom, Pfingsten, Johannes in der Wüste. Renaissance, die Condottieri, Scheiterhaufen, Schönheit; und die Modelle des Künstlers vermodert wie der Künstler selbst, eingegangen in das Purgatorio. Nein, sie beschwerten nicht die Gedanken, ihr Schweigen war gut und ordentlich, ja sie durften sich sogar ein wenig bewegen, wenn die Flamme zuckte, nicht viel aber doch ein wenig, denn man hatte mit ihnen nichts zu tun gehabt, als sie lebten.

Unter dem Ewigen Licht blieb der General stehen, er entblößte sein Haupt und neigte den Kopf. Der Flügelaltar stammte von einem Niederländer, es waren unirdisch schöne Frauen darauf zu sehen, mit Folterwerkzeugen in den Händen, Heilige, deren angelische Körper mit diesen Werkzeugen mißhandelt wurden, und daneben Volksszenen, wüste Knechtsgesichter, eine Landschaft voll greulicher Dämonen. Der General sah sie mit vorgeneigtem Kopf, er betete, sehr ernst und ohne Inbrunst, wie man eine notwendige Zeremonie abtut. Er blieb noch eine Weile in seiner gebückten Stellung und begann schließlich seinen Degen abzuschnallen. Er legte ihn auf die Altarbank, nahm die Schulterstücke ab, die Auszeichnungen, beugte das Knie und ging.

Als er auf die Straße trat, zerhackte eine Batterie der Zweizentimeterflack die Stille. Ueber den Dächern war viel Schw-arz und ein wenig Rot.

Ein Gefreiter stand noch auf Wache und leistete den vorgeschriebenen Gruß.

Dies zum letztenmal... repeat nothing.

Aus: Herbert Zand: Letzte Ausfahrt. Raman der Eingekesselten. Donau-Verlag Wien-München. 1953. Ausgezeichnet mit dem Staatspreis für Literatur.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung