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„Aus, auf, ihr chnisterm!“
Das Wort des Abraham a Sancta Clara, vor dreihundert Jahren aus der Situation einer religiösen und nationalen Bedrohung erwachsen und in diese Situation hinein gesprochen, ist heute nicht mehr lebendig - es sei denn durch den Titel. Als geflügeltes Wort ist das „Auf, auf, Ihr Christen!“, Überschrift, Thema und Leitmotiv von Abrahams „Anfrischung“, gegenwärtig. Doch gerade das Vertraute, das gerade noch Vertraute ist das Widerspenstige. Wer hätte 1983 das Recht, uns „Auf, auf!“ zuzurufen? Wer hätte es nötig, sich so etwas zurufen zu lassen? Mobilmachungen sind nicht unsere Sache, obzwar wir manchmal beweglich sind bis zur Unkenntlichkeit. Und auch Siege können uns nicht locken. Der bezwungene Gegner auf der «Capistran-Kanzel von St. Stephan mag gelegentlich einen Blick aus gegenüberliegenden Prälatenwohnungen auf sich ziehen, als Sinnbild der Kraft der Kirche wird ihn kaum einer aus den vielen Tausend wahrnehmen, die täglich hier Vorbeigehen.
„Segen“ und „Degen“ reimt sich für uns tatsächlich nicht mehr. Doch ist es wirklich em Gewinn, wenn alle Lust zum Streiten abhanden kommt? Sind die Gegner weniger gefährlich, wenn wir sie nicht mehr als Gegner ernst nehmen? Oder glauben wir ernstlich, daß es keine Gegner mehr gäbe? Wieviel Haß erleben wir täglich im Leben der Individuen und Völker! Wieviel vermeintliche Kraft beziehen wir im Alltag aus der Schmähung anderer! Wieviel Befriedigung suchen wir in der Zerstörung! Wäre Abrahams „Anmahnung“ nicht aufzunehmen als ein Appell, darüber nachzudenken, wo hier und heute die Gegner sind? Nicht, um neue Feindbilder zu schaffen, good guys von bad guys zu sondern, aber um die Lüge zu zerreißen, daß es in uns und um uns keine Gegner gäbe. Sie hat sich in uns eingenistet diese Lüge, weil sie uns das Leben erleichtert, weil sie es möglich macht, daß wir unsere Trägheit und unseren Indifferentismus als Tugend der Toleranz ausgeben. Wer nichts trägt und nichts erträgt, mag alles sein — tolerant ist er nicht. \
Schon unsere Stimme tragt nicht mehr. Die Ideologie der leisen Worte und undeutlichen Sätze hat von uns Besitz ergriffen. Alles könnte auch ganz anders lauten. Zuhören ist das Wichtigste. So wichtig es auch sein mag - es wird niemals umschlagen in die Verkündigung des Glaubens.
Doch vielleicht glauben wir selbst nicht mehr daran, daß wir diesen Glauben verkündigen wollen. Vielleicht sind wir schon zufrieden damit, ihn (noch) für uns behalten zu dürfen. Und im übrigen mag die Welt für sich selber sorgen. „Und das soll Christentum sein, das ist die Macht, die einmal in die Welt einbrach und durch ihre Willigkeit zu leiden der Welt das Christentum aufzwang, es mächtiger aufzwang als alle Tyrannen!“
Univ.-Prof. Dr. Werner Welzig ist Professor für Germanistik an der Universität Wien
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