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Autorität haben nur die Alten

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Ganz anders als in Europa stellt sich die Situation der Familie in Afrika dar. Bei den Bambara etwa herrscht das Senioritätsprinzip.

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Ganz anders als in Europa stellt sich die Situation der Familie in Afrika dar. Bei den Bambara etwa herrscht das Senioritätsprinzip.

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Die schwarzafrikanische Sippe, das System der Verwandtschaftsbeziehungen, ist so sehr verschieden von dem, was wir „Familie” nennen, daß man sich zuerst auf die Grundregeln traditioneller afrikanischer Gesellschaft besinnen muß. Dies sei am Beispiel der seit Jahrhunderten maßgeblich an der Gestaltung der Geschichte Westafrikas beteiligten Ethnie der Bambara versucht. Die Seniorität ist in dieser Ethik ein allgemeines Prinzip der Machtverteilung in den Sippen. Die Alteren sind die Vertreter der Allgemeinheit. Und sie sind es, weil sie nach der Rangordnung „Früher sticht Später” das Sagen haben. Die alten Männer „führen das Wort” in der Öffentlichkeit von Sippe und Dorf. Die Sippe, die nur um ein weniges früher ins Dorf kam, genießt Vorrang. Seniorität ist ein generelles soziales Prinzip. Es beruht nur sekundär auf der Häufung von Erfahrung oder gar der „Weisheit” von Einzelpersonen

Die Stellung der alten Männer in der traditionellen Stammeskultur müssen wir aus der gefährdeten, um das Überleben kämpfenden, auf Selbstschutz ausgerichteten Gesellschaft sehen. Diese Gesellschaft bedurfte einer klaren Rangordnung als Kontrollprinzip für sozialen und kulturellen Wandel. Durch diese Kontrolle konnte die Stammesgesellschaft katastrophalen wirtschaftlichen, ethnischen und politischen Eingriffen widerstehen. Solche Eingriffe geschahen schon lange vor der aus Europa kommenden Technisierung und Modernisierung. Stammeskriege, Raubzüge, innerafrikanische Sklavenj agden und solche, die dann von außen, von Arabern oder Europäern veranstaltet wurden, waren solche Eingriffe. Aus dem Schutzprinzip ist daher die straffe Organisation der Stammesgesellschaften in Gruppen zu verstehen. Die Gruppe ist der Schlüssel zum Verständnis der Sippe. Wie zuerst in der Kindergruppe, in die sie mit zwei Jahren eintreten, orientieren sich die heranwachsenden Kinder -später die Jugendlichen und die Männer im Geheimbund - an einer jeweils älteren Leitperson. Darauf baut der Gedanke der Initiation. Mit den Gleichaltrigen teilen die Jungen das gemeinsame Erlebnis der Gefahren und Prüfungen dieser Initiation. Durch diese werden sie für die Gesellschaft neugeboren. Sie erhalten auch ihre eindeutige geschlechtliche Identität als Mann und Frau.

Die Macht der Mütter

Männerbünde deuten auf starke unterschwellige Müttermacht. In der Tat ist die soziale Folgewirksamkeit der Mütter für die gefühlsmäßige Sicherheit der patriarchalischen Clan-Gesellschaft, auch für den Zusammenhalt der Gruppen in den Geheimbünden, von unübertroffener Bedeutung. Emotional gesichert durch die frühe intensive Zuwendung der Mütter, können sich die Männer besser auf die Außenbeziehungen des Clans und des Dorfes konzentrieren. Trotz Frauengruppen und Frauentanz sind die Frauen im öffentlichen Auftreten des Dorfes viel stärker eingeschränkt als die Männer. Als Mütter erhalten sie jedoch eine gegenüber den Söhnen und Männern große individuelle Bestimmungsmacht. Vor allem die um-fassend-gewährende Haltung der

Bambara-Mütter hat entwicklungsbestimmende seelische Folgen für die Kinder. Die Grundhaltung der Mütter ist sanft, gütig, gewährend.

Sie reichen dem Säugling und noch dem Kleinkind bis zum Ende des zweiten Lebensjahres, wann immer das Kind danach verlangt, die Brust. Sie bringen die Reinlichkeits-gewöhnung des Kindes ohne Druck zuwege. Wir fanden einen bruchlosen Übergang von der Obhut der Mutter in eine beschützende Gruppe. Wir sahen in der Kindergruppe ein Kollektiv als Grundlage zur Herausbildung einer sozialen Loyalität für die gesamte Clan-Gesellschaft.

In den Kindergruppen wird Aufruhr gegen Autorität geradezu übersprungen. Folgenreich für das spätere Leben ist und bleibt die Haltung der Mutter. Sie begünstigt die bei Kindern und Jugendlichen eine fürs ganze Leben gelernte, anspruchsvolle „aussaugende” und „vereinnahmende” Haltung. Im späteren Leben schlägt sich diese zum Beispiel in den rituellen „grandes bouffes”, den Freßgelagen, nieder. Es kommt zu einer starken Bejahung von Gemeinsamkeit, in die dann die Seniorität als strukturierendes Prinzip, als Basis-Norm aufgenommen wird.

Das Prinzip der Seniorität wird ohne Autoritätskonflikt akzeptiert. Es wird zum Modell der ökonomischen wie der ideellen Verteilungsmacht, könnte dies aber nicht werden, wäre es nicht mythisch abgesichert. Rituale und Symbole garantieren die gesellschaftliche Verankerung. Unter den Bedingungen des Fortbestehens der Traditionen der Stammesgesellschaft stützen die mythisch-rituellen Praktiken die Macht des Senioritätsprinzips.

Bindung an die Vorväter

Die Ahnenbeziehung, welche die Kontinuität der lebenden und abgeschiedenen Generationen unterstreicht, ja eine Verbindung zum Reich der Toten schafft und an die Vorväter und Vorbilder bindet, be-fähigt das Ich zur Verwandlung in ein integriertes, der Tradition und der sozialen Verantwortung gegenüber geöffnetes Selbst. So wird in jedem Mitglied der Stammesgesellschaften durch die Ahnen das Überzeitliche repräsentiert. Dieses Überzeitliche ist eine Art geistiger Substanz des Clans und des Stammes. Als solches strukturiert es das afrikanische Selbst. Leben ist sterblich, das

Ahnenprinzip ermöglicht Kontinuität und Solidarität. Es geht über die natürliche Reproduktion und über das einzelne Individuum hinaus und führt in eine mythische Überhöhung des Daseins.'

Die Hauptbeschwerde der Jungen in den Dörfern ist, daß die Alten die Wünsche der Jungen nicht respektieren. Das Clan-Oberhaupt legt fest, ob und wann ein Junger in die Stadt wandern darf, um dort in der Trockenzeit für einige Monate zu arbeiten. In den meisten Fällen ziehen die Alten ein Orakel zu Rate, um den Zeitpunkt festzulegen, wann die Jungen die Erlaubnis zum Weggehen erhalten sollen. Ob sie gehen dürfen oder nicht, darüber treffen die Alten die Entscheidung. Manche Junge wären zufrieden, wenn sie sich mit ihren Brüdern in der Saisonarbeit in der Stadt, die ihnen als begehrenswerte Welt Prestige und teils auch Verdienstmöglichkeiten bringt, jahrweise abwechseln dürften. Aber die Alten sind nicht bereit, eine Ordnung einzuführen, die sie an eigene Versprechen binden würde. Sie lassen sich durch Übereinkunft nicht festlegen. Der Alten Wille entscheidet jeweils.

Die Jungen bedauern, daß die von ihnen — entsprechend den traditionellen Regeln - den Alten abgelieferten Gelder für Hochzeiten und Feste verschleudert und nicht für die Verbesserung der Produktion zum Beispiel für den Ankauf von Pflügen, Eseln oder Rindern investiert werden. Trotzdem wird von den selben Jungen am Senioritätsprinzip und an der hierarchischen Unterordnung unter die Alten festgehalten.

Der Autor hat über seine Feldforschungen in Westafrika im Verlag Bölau 1992 ein Buch veröffentlicht: „Die Schnüre vom Himmel”

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