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Das Leben ist ein Grundrecht

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Die sogenannte Reform des 144 Strafgesetz nähert sich ihrer Entscheidung. Die Sozialistische Partei Österreichs als mandatsstärkste Partei im Nationalrat tritt für die ,,Fri-stenlösung“ ein, derzufolge die Abtreibung in den ersten drei Monaten straffrei bleiben soll.

Zwei Tatsachen sind evident: zum ersten ist es unbestritten, daß vom medizinischen Standpunkt aus die Leibesfrucht in diesen drei Monaten lebt — daß die Abtreibung also eine Zerstörung von menschlichem Leben bedeutet; zum zweiten muß festgehalten werden, daß das Strafgesetz ein einfaches Gesetz ist — und daß dieses den Normen des gültigen Verfassungsrechtes nicht widersprechen darf.

Aufgabe des Verfassungsrechtes ist es, die Ausübung der Staatsgewalt zu regeln und die Stellung des einzelnen zu sichern. Mit der Internationalisie-rung und Humanisierung wurden diese Aufgaben auch zum Gegenstand von internationalen Übereinkommen, die einen Rechtsschutz-und Sozialgestaltungsauftrag an den Gesetzgeber des jeweiligen diesem Übereinkommen beitretenden Staates erteilen.

Von grundlegender Bedeutung für die Rechte des einzelnen im Bereich der Mitgliedstaaten des Europarates wurde die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK), die 1950 zustande gekommen ist. Österreich ist ihr 1958 beigetreten. 1964 wurde vom österreichischen Parlament rückwirkend der Verfassungsrang der MRK (BGBl. 59/1964) festgestellt. Nach dem Verfassungsgerichtshof (Erk. ZI. 5100/65) ist die MRK ein den Gesetzgeber unmittelbar bindender Verfassungsbefehl. Dieser ist dort besonders zu beachten, wo es sich um die Existenz und Würde des einzelnen handelt. Dies ist beim Strafrecht der Fall; seine notwendige Reform hat daher auch diesen Verfassungsbefehl zu beachten; besonders dann, wenn es sich um den Schutz des Lebens des einzelnen handelt.

Art. 2 (1) MRK beginnt: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt.“ Abgesehen vom Art. 63 des Staatsvertrages von Saint Germain, der Österreich im Zusammenhang mit dem Schutz der Minderheiten verpflichtet, allen Einwohnern vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren, ist ein derartiges Verfassungsgebot als Grenze einfachen gesetzlichen Wollens im österreichischen Recht neu.

Es stellt sich nun die Frage nach dem Beginn der Schutzwirkung dieses Grundrechtes. Karl Josef Partsch meint, daß im Hinblick auf Entscheidungen der europäischen Menschenrechtskommission der Schluß naheliegt, daß dieser Zeitpunkt sehr weit zurückverlegt wird. In Kommentaren zur MRK hat Heinz Guradze wohl den Schutz des nasciturus abgelehnt, Hubert Schorn demgegenüber aber deutlich erklärt: „Das Recht auf Leben umfaßt auch das keimende, noch ungeborene Leben vom Augenblick der Empfängnis an.“

Eine eigene Rechtssprechung des europäischen Gerichtshofes zum Schutz der Menschenrechte zu Art. 2 (1) MRK gibt es nicht. Es sei aber vergleichsweise auf die ähnliche Bestimmung im Art. 2 (2) Bonner Grundgesetz verwiesen: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Zum Inhalt dieser Bestimmung .sagt der Standardkom-rnentar von Maunz-Dürig-Herzog 1971 eindeutig: „Inhaber des Grundrechtes auf Leben ist auch der nasciturus“ und drückt damit die in der BRD herrschende, auch von Rechtslehrern vom Rang eines Mangoldt, Klein und Nipperdey vertretene Lehre aus.

Vorsichtiger ist Ekkehart Stein, wenn er schreibt: „Ein Grundrecht des nasciturus dürfte zu verneinen sein, da ihm die Grundrechtsfähigkeit fehlt“, aber dem gleich hinzufügt: „Aus dem Schutz des Lebens ergibt sich aber eine objektive Norm, wonach der Staat nascituri nicht töten lassen darf.'

Es trifft daher den Staat gegenüber dem ungeborenen Leben eine doppelte Verpflichtung: er muß einerseits sich selbst eigener Eingriffe in das ungeborene Leben enthalten und damit einer Achtungspflicht nachkommen und anderseits Angriffe auf das ungeborene Leben, die von Privaten ausgehen, abwehren, womit ihn eine Schutzpflicht trifft. Dieser Achtungs- und Schutzpflicht kommt der Staat nicht nach, wenn er im Sinne der Fristenlösung für einen bestimmten Zeitraum das ungeborene Leben rechtlich ungeschützt zur Disposition stellt. Anders wäre dies bei der Indikationenlösung, welche grundsätzlich das ungeborene Leben schützt und nur für bestimmte zu beachtende Grenzsituationen eine Eingriffsmöglichkeit zuläßt.

Wenngleich das Grundrecht auf Leben neu durch Art. 2 MRK in die österreichische Rechtsordnung eingeführt wurde, darf aber anderseits nicht übersehen werden, daß 22 ABGB schon seit Jahrzehnten einfachgesetzlich vorsieht: „Selbst ungeborene Kinder haben vom Zeitpunkt ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze.“

Dabei ist zu beachten, daß Karl Marschall erklärt hat, der Schutz des Art. 2 MRK erstrecke sich immer dann auch auf die Leibesfrucht, wenn und insoweit dieser durch die einfache Gesetzgebung Rechtspersönlichkeit eingeräumt wird. Das ist also in Österreich der Fall. Daher kommt auch er zum Schluß, es ergebe sich, „daß nach der geltenden österreichischen Verfassungsrechtsordnung der menschlichen Leibesfrucht jedenfalls verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte auf Leben im Rahmen des Art. 2 MRK ... eingeräumt sind... Nach geltender einfachgesetzlicher Rechtslage hat die menschliche Leibesfrucht ab Empfängnis Rechtspersönlichkeit... Die einfach gesetzliche Beschränkung dieses Rechtsschutzes wäre verfassungsrechtlich höchst bedenklich.“ Für die Bundesrepublik Deutschland hat schon Roman Herzog festgestellt, es kann „keinen Zweifel daran geben, daß der Beginn des verfassungsrecht-1 ichen Lebensschutzes auf den frühesten Zeitpunkt anzusetzen ist, in dem überhaupt von einem neu entstehenden menschlichen Wesen gesprochen werden kann, das heißt also auf die Vereinigung der Keimzellen.“

Wenn in diesen Monaten das Problem des Schutzes ungeborenen Lebens in aller Breite diskutiert wird, sollte auch die Bedeutung der europäischen Menschenrechtskonvention die Österreich international verpflichtet und als Verfassungsnorm den einfachen Gesetzgeber bindet, für die österreichische Strafrechtsreform bedacht werden.

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