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Das Wunder Furtwängler

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Es gibt heutzutage in der Welt der Musik kaum noch Wunder. Alles ist vorauszuberechnen und vorausberechnet. Man engagiert die prominentesten Dirigenten, die entsprechende Gagen verlangen, man engagiert die besten Sänger und Sängerinnen, gleichgültig, ob sich der eine gerade in Buenos Aires, die andere in London befindet. Sie kommen, denn auch ihre Gagen sind sehr prominent. Tausend Dollar, zweitausend Dollar, ja viertausend Dollar pro Abend — das sind keine Seltenheiten mehr. Mag sein, daß einmal die Erwartungen nicht erfüllt werden — Indisposition, Erkrankungen in letzter Minute; mag sein, daß einmal alle sich selbst übertreffen. Die Kritik jubelt dann von einer „Sternstunde“.

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Es gibt heutzutage in der Welt der Musik kaum noch Wunder. Alles ist vorauszuberechnen und vorausberechnet. Man engagiert die prominentesten Dirigenten, die entsprechende Gagen verlangen, man engagiert die besten Sänger und Sängerinnen, gleichgültig, ob sich der eine gerade in Buenos Aires, die andere in London befindet. Sie kommen, denn auch ihre Gagen sind sehr prominent. Tausend Dollar, zweitausend Dollar, ja viertausend Dollar pro Abend — das sind keine Seltenheiten mehr. Mag sein, daß einmal die Erwartungen nicht erfüllt werden — Indisposition, Erkrankungen in letzter Minute; mag sein, daß einmal alle sich selbst übertreffen. Die Kritik jubelt dann von einer „Sternstunde“.

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Aber es gibt andere Sternstunden, nicht ausrechenbare, und sie sind es schon deshalb, weil sie einen unendlichen Seltenheitswert haben. Und diese Sternstunden — genau genommen rund zwanzig Sternstunden — bedeutet der „Ring“ von Wilhelm Furtwängler.

Das erste Wunder ist, daß er überhaupt jetzt als Plattenkassette herausgekommen ist. Denn Furtwängler nahm ihn vor rund zwanzig Jahren auf, ganz kurz vor seinem Tode, duroh das römische Radio, in einem römischen Konzertsaal, nicht unter den besten Bedingungen. Und noch bevor entschieden werden konnte, was nun eigentlich mit den Bändern geschehen sollte —denn mitgeschnitten hatte man das Werk natürlich — war Furtwängler nicht mehr.

Wer von uns, die ihm nahe gestanden haben, glaubte, ein so berühmter Mann, einer, der eine ganze musikalische Welt aufgebaut und verteidigt hatte, würde nicht so schnell vergessen werden?

Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Im Wagen, in dem mich der damalige Intendant der Berliner Philharmoniker von der Heidelberger Kirche zum Friedhof mitnahm, wurde die amerikanische Tournee diskutiert, die Furtwängler wenige Wochen später mit den Philharmonikern hätte antreten sollen. Es hatte Jahre und Jahre gedauert, bis es dazu gekommen war; denn in New York galt Furtwängler für viele — und darunter waren die Einflußreichsten der Musikwelt — als Nazi. Und man wollte ihn infolgedessen nicht haben.

Und jetzt, da man bereit war, ihn zu empfangen — längst hatte sich herausgestellt, daß Furtwängler nie-. mals auch nur die geringsten Sympathien für die Partei der Nationalsozialisten gehabt hatte — wie viele der heute prominentesten Dirigenten der Welt — nun war er tot.

Ich meinte naiverweise, nun werde wohl die Tournee nicht stattfinden. Der Intendant, übrigens selbst ein „Ehemaliger“, der seine Stellung allein Furtwänglers Einfluß verdankte, widersprach: natürlich müßte die Tournee stattfinden. Karajan, den Furtwängler stets als seinen Antipoden betrachtet hatte, und der übrigens politisch keineswegs so unanfechtbar war, wie der eben Verstorbene, übernahm das Zepter. — Und feierte Triumphe in Amerika und auch anderswo.

Furtwängler war also eigentlich begraben, noch bevor er begraben war. Und in den nächsten Jahren hörte man wenig von ihm. Kein Wunder, da man ja soviel von denen hörte, die noch dirigierten, und die es sich angelegen sein ließen, daß man viel von ihnen hörte.

Gelegentlich erfuhren Freunde der Familie von jenen Bändern, die seinerzeit in Rom mitgeschnitten worden waren. Was würde mit ihnen geschehen? Gab es keine Möglichkeit, sie als Platten herauszubringen? Es waren da gewisse Schwierigkeiten, und sie schienen unüberwindlich. Sänger, die mitgewirkt hatten, waren bei verschiedenen Firmen exklusiv verpflichtet, und welche dieser Firmen konnte nun das Monumentalwerk Furtwänglers übernehmen? Das bedeutete, daß eine Reihe von anderen Firmen auf ihre Rechte — an einem oder mehreren der mitwirkenden Künstler, wenigstens für dieses eine Mal — verzichteten!

Schlimmer: Keine der Firmen war besonders interessiert daran, das Werk herauszubringen. Die Technik sei ja nun schon veraltet, bemerkte man, nicht einmal ganz zu Unrecht, nach zwei, drei Jahren. Die Aufnahmetechnik, natürlich. Denn im Konzertsaal habe man die Klangstärken nicht ausbalancieren können, wie man das in eirfem Aufnahmestudio tun kann. Das heißt, manchmal seien die Sänger nicht durchgedrungen, seien zugedeckt worden vom Orchester — und dergleichen mehr.

Hinter dem allem stand aber die Sorge der großen Plattenfirmen um ihre noch lebenden Künstler, die sich ja nicht konkurrenzieren lassen wollten.

Die Bänder gelangten schließlich in den Besitz der englischen Plattenfirma E. M. I., die mit ihrem Firmenzeichen des lauschenden Hundes weltberühmt geworden ist. In England konnte man sich nicht entschließen. Die Deutsche Grammophon kaufte die Bänder, konnte sich aber ebenfalls nicht entschließen. Das lag wohl daran, daß der Stardirigent der Deutschen Grammophon inzwischen Karajan geworden war, der ja früher oder später sicher einen „Ring“ dirigieren würde. Dann gab es wieder andere Firmen, bei denen Böhm dirigierte und Solti — es schien alles darauf zu deuten, daß die Bänder, die mit der Zeit ja auch nicht besser wurden, niemals auf Platten überspielt und dem großen Publikum zugänglich gemacht würden. Schließlich kaufte E. M. I. die Bänder zurück — ein Heer von ersten Technikern und Experten machte sich an die Arbeit und: „Man kann diese Arbeit gar nicht hoch genug einschätzen. Ohne sie wären die Platten nie zustande gekommen!“

Das sagt eine, die es wissen muß, die Witwe Furtwänglers nämlich, und von ihr darf wohl ebenfalls gesagt werden, noch in stärkerem Maße, daß ohne sie die Platten nie zustande gekommen wären. Sie war unermüdlich. Sie reiste nach London, sie reiste nach Hamburg; und sie kämpfte immer wieder um die Aufnahmen. Und schließlich gaben alle anderen nach, vermutlich, weil sich niemand große Geschäfte von diesen Platten versprach, also auch keine große Konkurrenz. Selbst bei Elek-trola, einer Tochterfirma der englischen E. M. I., gab es Bedenken, aber man ging ans Werk.

Dann geschah noch etwas: die Witwe Furtwänglers verzichtete auf die üblichen Tantiemen. Dies wurde niemals öffentlich gesagt. Aber es sollte einmal gesagt werden. Es ist ein so seltener Fall in der Geschichte der Musik oder der Kunst überhaupt, daß auf Geld verzichtet wird. Jedenfalls in der modernen Geschichte der Kunst.

Und nun geschah das Wunder. Die Platten waren kaum auf dem Markt, da verkauften sie sich, nicht zu hun-derten oder tausenden wie man bestenfalls gehofft hatte, sondern wurden zu Bestsellern. Man sah es daran, daß eine sehr bedeutende Firma — es sei ihr erspart, namentlich genannt zu werden — den „Ring“ eines sehr bedeutenden Dirigenten, der gerade auf Platten herausgekommen war, um vierzig Prozent herabsetzte. — Trotz allem siegte und siegt noch immer der „Ring“ des toten Furtwängler über den Lebenden — über die Lebenden.

Der Grund? Man kann da kaum von irgendeinem Grund reden. Im Gegenteil. Man kann, wenn man genau sein will, viele Beanstandungen machen. Da sind Tempi, die uns heute zu langsam vorkommen, genau genommen nahm ja der alternde Furtwängler alles sehr viel langsamer als andere Dirigenten, man muß zugeben, daß klanglich nicht alles allerbeste Klasse ist, wenngleich die Sänger es wohl durchwegs sind. Aber zählt das? Unter Furtwängler wird einem der „Ring“ offenbart. Wieder und immer wieder. Ich erinnere mich, daß mir Richard Strauss einmal erzählte — das war 1946, also nur wenige Jahre vor seinem Tod —, er habe in der Nacht zuvor die Partitur der „Walküre“ wieder gelesen und da Dinge „entdeckt“, von denen er bis dato nie gewußt hatte, er, der die „Walküre“ oder zumindest Teile der „Walküre“ doch unendlich oft gespielt haben muß! So ergeht es einem mit Furtwängler. Und das Erstaunliche ist, wenn man die Platten zum zweitenmal, zum drittenmal, zum viertenmal hört — immer wieder findet sich etwas, was man bis dahin zwar gehört hat, aber eben doch nicht richtig gehört hat.

Eine Welt entsteht. Die Welt des „Rings“ und die Welt Furtwänglers, nach zwanzig Jahren, in denen sie verschüttet und eigentlich schon vergessen war.

Als wir 1954 Furtwängler in Heidelberg begruben, war er eben doch nicht begraben. Und ist es nicht und wird es lange nicht sein.

Übrigens: es steht uns noch eine Reihe von Wundern bevor. Keine der Salzburger Aufführungen Furtwänglers, weder der „Freischütz“ noch der „Othello“ noch der „Figaro“ sind bisher auf Schallplatten übertragen worden. Sollte es noch einmal zwanzig Jahre dauern?

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