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FURTWÄNGLERS TRAGIK

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Hunderttausende haben ihn gesehen, Millionen haben am Lautsprecher oder vor ihrem Plattenschrank seine Interpretationen klassischer oder romantischer Musik erlebt. Ihnen allen mußte Wilhelm Furtwängler — mit seiner hohen schlanken Gestalt, dem schönen Kopf mit den strahlend blauen Augen —, der mit der vibrierenden Rechten das Orchester beherrschte und der mit seiner Musik jedes Publikum enthusiasmierte, als ein Glücklicher erscheinen, als ein Liebling der Götter und der Menschen, von Ruhm umstrahlt und mit der Krone des Heros auf der Stirn. Wie es aber in Wirklichkeit, in seinem eigenen Inneren, um den Menschen und Künstler Furtwängler bestellt war, wußten nur wenige.

Als man eines Tages dem bekannten Philosophen und Handschriftenforscher Ludwig Klages Furtwänglers Schrift vorlegte, ohne daß Klages wußte, von wem das Manuskript stammte, sagte er: „Das könnte ein Religionsstifter sein — kaum ein Künstler; am ehesten ein Tragiker — bestimmt kein Musiker!“ Worin bestand Furtwänglers Tragik? Wir meinen nicht die düsteren Jahre nach 1933, als er, obwohl die nationalsozialistische Kulturpolitik entschieden ablehnend und ihren Vertretern mutigen Widerstand entgegensetzend, Deutschland trotzdem nicht verließ und zum Dank für diese seine Haltung, zum Lohn für sein Eintreten für die Verfolgten und Verfemten, nachdem der Spuk vorüber war, sich einer Spruchkammer stellen mußte und zweieinhalb Jahre lang nicht dirigieren durfte. Das alles hat ihn sehr bedrückt und gekränkt. Abeir die Wurzeln von Furtwänglers Tragik lagen tiefer. Als seine eigentliche Begabung, als seine wichtigste Aufgabe erschien ihm, sich schöpferisch zu betätigen und auszudrücken: als Komponist. Er wollte nicht als komponierender Dirigent, sondern als dirigierender Komponist angesehen werden, und es gab Zeiten in seinem Leben, viele Jahre, der er jene Betätigung, die ihm die Bewunderung von Millionen Menschen brachte, als lästige Pflicht empfand, als Raub an seiner Zeit, die er dem eigenen Schaffen widmen wollte. „Mein tiefster Gedanke ist, nicht der sein zu können, der ich bin“, notierte sich einmal Paul Valery. Dies war auch Furtwänglers größte und tiefste Sorge.

In späteren Jahren kamen zu der Trauer um sein unerfülltes Komponistenschicksal noch andere Sorgen: Er spürte mit der Hellsicht des wahrhaft humanistisch Gebildeten und mit der Sensibilität des großen Künstlers den fortschreitenden Prozeß der Vermassung und Mechanisierung des Lebens, in den auch die Musik mit hineingerissen ist. Zugleich sah er die Fundamente brechen, auf denen drei Jahrhunderte lang die deutsche Musik — um diese ging es ihm vor allem — ausgeruht hatte. Denn als Komponist war Furtwängler ein großer Konservativer, der einer vertrauten Freundin einmal sagte: „Ich will das Steuer herumwerfen!“ Damit meinte er, daß es möglich sein müsse, die Kluft seit 1900 zu überbrücken und eine neue Epoche der Musik heraufzuführen. Das konnte er als einzelner nicht. Dazu war sein kompositorisches Werk rein dem Umfang nach zu gering (drei Sinfonien, zwei Sonaten für Violine und Klavier, ein Klavierkonzert, ein sinfonischer Dialog und ein Tedeum).

Seine Sorgen über den Verfall der Musik und die Kommerzialisierung des Kunstbetriebes ließen ihn auch zur Feder greifen. Neben den „Gesprächen über Musik“ und den beiden Essaysammlungen „Ton und Wort“ und „Vermächtnis“ bringt jetzt der Verlag F. A. Brockhaus, Wiesbaden, einen überaus aufschlußreichen Briefband heraus, der insgesamt 299 Schriftstücke von 1894 bis 1954 umfaßt, die von Frank Thiess ausgewählt, eingeleitet und mit interessanten Kommentaren versehen wurden. Die wichtigsten Briefe sind an Ludwig Curtius gerichtet, den bekannten deutschen Archäologen und Direktor des Archäologischen Instituts in Rom. Curtius war ein Schüler von Wilhelm Furtwänglers Vater und jahrelang sein Erzieher. Der Adressat des letzten hier abgedruckten Briefes, Heinrich Wollheim, Mitglied der Berliner Staatskapelle und als Halbjude entlassen, war Kopist von Furtwänglers Kompositionen. Wegen Fluchtbeihilfe kam Wollheim ins KZ. Dort rettete ihm Furtwängler das Leben, indem er ihn weiterhin als Kopisten beschäftigte und als unentbehrlich erklärte.

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