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Der andere Hochhuth

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Nachdem im Rowohlt-Verlag die drei großen Dokumentarspiele „Der Stellvertreter“, „Soldaten“ und „Guerillas“ in einer Gesamtauflage von mehr als einer halben Million Exemplaren erschienen sind und bisher an etwa 120 Bühnen gespielt wurden, wollte nun der Verlag, zugleich mit Hochhuths neuem Stück, der Komödie „Die Hebamme“, mit dem „anderen Hochhuth“ bekanntmachen und hat einen dicken, fast 500 Seiten umfassenden Band zusammengestellt. Er enthält, unter dem Titel „Kleine Prosa“: eine Ehegeschichte, die „Berliner Antigone“, „L'Impromptu de Madame Tussaud“ — eine witzig-brillante Schilderung von Begegnungen des Autors mit seinem Verleger Dr. Ledig-Rowohlt, und, unter dem Titel „Anekdote“, die Beschreibung eines Besuches, den Hochhuth zusammen mit dem britischen Historiker David Irving bei dem 94jährigen Wilhelm von Scholz am Bodensee machte.

Die Essays haben folgende Themen: Soll das Theater die heutige Welt darstellen? — Appell an den

Verteidigungsminister Schmidt — Die „abgeschriebenen“ Schriftsteller in der Bundesrepublik — Hat die Revolution in der Bundesrepublik eine Chance? Und: „Der alte Mythos vom neuen Menschen“. Es sind hier die letzten Studien Hochhuths aus den Jahren 1969 bis 1971 zusammengefaßt. Darin wendet er sich gegen die Geschichtsvisionen Herbert Marcuses und desssen Aufruf zur Befreiung von der Uberflußgesell-schaft, dem Hochhuth die Ergebnisse der Studien von Claus Jacobi über die explosive Vermehrung der Weltbevölkerung gegenüberstellt. Kein politisches System, kein rechtes und kein linkes, kann mit diesem Problem fertigwerden, denn „nicht die Erde, sondern der Mensch ernährt den Menschen“. Ein anderes Thema lautet: jedes Geschichtsbuch widerlegt den Endzieloptimismus — denn, so wie die Dinge heute aussehen, steht alles unter dem Gesetz des „Zwanges zum Scheitern“. Statt Gewinnung ausgedehnter neuer Landwirtschaftsgebiete dient der Mondflug den beiden Supermächten als

Beschäftigungstherapie. Die vier Nekrologe gelten großen alten Männern, die Hochhuth verehrte: Johannes XXIII., dem vergessenen deutschen Dichter und Dramatiker Otto Flake, dem Regisseur Erwin Pisca-tor und dem Soziologen und Weltreisenden L. L. Mathias.

Die Heldin von Hochhuths erster Komödie ist die 78jährige Hebamme und Gemeindehelferin Sophie, die, indem sie sich die Papiere einer ostpreußischen Feldmarschallswitwe aneignet und deren Pension bezieht, den Slumbewohnern einer hessischen Stadt unter die Arme greift. Sie veranlaßt diese armen und von der Wohlstandsgesellschaft Vernachlässigten, in die neue, für Bundeswehrangehörige bestimmte Siedlung einzuziehen und ihre Baracken anzuzünden, damit keine Rücksiedlung erfolgen kann. Hochhuths ganze Sympathie gehört dieser neuen Mutter Wolfen, und der Satiriker schießt dabei nicht nur aus vollen Rohren, sondern, wie eine Stalinorgel, nach allen (politischen) Seiten.

In dieser Komödie, die den doppelten Umfang eines normalen abendfüllenden Theaterstücks hat, gehören zum Lustigsten die seitenlangen Kommentare und Regieanweisungen. Hier und in seinen Essays zeigt sich Hochhuth von seiner besten Seite. Er verfügt über ein ungeheures Reservoire von Sachwissen, von Einzelfakten aus dem Gebiet der Zeitgeschichte, der Historie, der Soziologie, der Wirtschaft und der Politik, vor allem der Politik als Wirtschaft. Unzählige Details und Fakten hat er jederzeit bei der Hand, um seine Dokumentationen zu untermauern. Dabei ist sein moralisch-intellektueller Ernst nicht anzuzweifeln. Aber er schrieb die drei Dramen cum ira et studio, so daß ihm arge Verzeichnungen seiner „Helden“ passierten. Und sein für Recht und Gerechtigkeit entflammter Sinn warf auf die Gegenseite zuweilen tiefe Schatten.

Aber Hochhuth wird älter und reifer, jetzt schon weiß er die Weisheit der alten Leute zu schätzen und stellt wiederholt fest, daß es die Alten sind, auf deren Mut die Jungen bauen können — denn dieser Mut beginnt meist, wenn die Karriere hinter ihnen liegt. Eingestreut zwischen diese großen Abschnitte des Buches sind vier kleine Gedichtzyklen von Hochhuth, die eine gesonderte Analyse verdienen würden. Der Leser dieses reichhaltigen und anregenden Hochhuth-Kompendiums wird sie erstaunlich finden und zu schätzen wissen.

DIE HEBAMME, KOMÖDIE. Erzählungen. Gedichte, Essays. Von Rolf Hochhuth. Rowohlt-Verlag. 494 Seiten.

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