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Der legalisierte Totschlag

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36.000 Schaulustige schrien sich am 22. Jänner in der Hauptstadt von Jamaika die Kehlen heiser: Nach 275 Sekunden Kampfdauer mußte Cassius-Clay-Bezwinger Joe Frazier seinen Weltmeistertitel im Schwergewicht an George Foreman abgeben. „Joe tat mir leid“, gab sich Foreman nach dem Kämpf mitfühlend, nachdem er diesen ungerührt zuvor sechsmal in den Ringstaub .niedergestreckt hatte.

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36.000 Schaulustige schrien sich am 22. Jänner in der Hauptstadt von Jamaika die Kehlen heiser: Nach 275 Sekunden Kampfdauer mußte Cassius-Clay-Bezwinger Joe Frazier seinen Weltmeistertitel im Schwergewicht an George Foreman abgeben. „Joe tat mir leid“, gab sich Foreman nach dem Kämpf mitfühlend, nachdem er diesen ungerührt zuvor sechsmal in den Ringstaub .niedergestreckt hatte.

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Box-Großmaul Cassius Clay hatte am 8. März 1971 gegen diesen Frazier nach 45 Minuten verloren. Und man neigt deshalb dazu, die Clay-Worte nach dem Foreman-Sieg als eher lächerlich abzutun. Der ehemals „Größte“ meinte nämlich: „Foreman hatte es leicht. Ich habe Vorarbeit geleistet“.

Die Sportseiten der Zeitungen frohlockten hernach über die „tödliche Entschlossenheit“ Foremans und zeichneten ihren Lesern das „Massaker“ im Ring detailliert nach. Denn das wünscht sich das Publikum: Angriffslust, Härte, Dramatik — und den Boxer mit dem „killer punch“, also mit dem todsicheren K.-o.-Schlag.

Und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob der Schauplatz Jamaika oder die Wiener Stadthalle ist: man sitzt am Ring oder vor dem Fernsehschirm mit sadistischer Vorfreude auf den Augenblick, wenn ein Mensch wehrunfähig am Boden liegt.

Aber für viele kam der K.-o.-Schlag zu früh: Seit 1945 sind allein in den westlichen Staaten rund 300 Boxer den direkten Folgen eines Kampfes erlegen. Über Todesfälle in den Oststaaten gibt es keine näheren Angaben, doch muß man sich vor Augen halten, daß zwischen einem Staatsamateur und einem Profiboxer kaum Unterschiede bestehen. Immerhin: Der Ruf des Publikums nach dem Boxer mit dem „tödlichen Schlag“ bekommt dadurch ein tragisches Echo.

Breitgeschlagene Nasen, „Blumenkohlohren“ und Narben statt Augenbrauen sind eigentlich kaum ins Gewicht fallende Verletzungen. Das entstellte Gesicht aber sagt überhaupt nichts über die tatsächlichen körperlichen Schäden aus, die sich beim Boxen einstellen.

Wenn ein Durchschnittsmensch bei einem Sturz hart mit dem Kopf aufschlägt, so hat das seine Folgen: der Arzt steckt ihn mit Gehirnerschütterung ins Bett und verordnet eine längere Ruhe. Sollte sich Bewußtlosigkeit eingestellt haben, so wird es noch ernster. Ein Schlag gegen den Kopf hat eben seine unweigerlichen Folgen, läßt sich aber ausheilen. Was aber nichts an der Tatsache ändert, daß sich das Gehirn durch den Schlag in der Schädelhülle verdreht, und Blutgefäße sowie Nervenstränge für kurze Zeit einer Zerreißprobe ausgesetzt sind.

Gehäufte Schlageinwirkungen, also Schläge im Abstand von 5 bis 20 Sekunden, führen — das wurde auch durch Tierversuche wiederholt nachgewiesen — zu umso größerer Gefahr und damit zu schweren Hirnschäden. Und Schlagserien, wie sie in Boxkämpfen bejubelt werden, haben etwa diese Intensität. Die Wirkung stellt sich auch prompt ein:Der Boxer ist „groggy“, er torkelt wie ein Betrunkener. Ein weiterer Schlag genügt und er geht k.o.: Die Benommenheit geht in Bewußtlosigkeit über, die Sekunden, aber auch Minuten dauern kann.

Wissenschaftliche Versuche mit Tieren haben das untermauert, was man auch am Boxring beobachten kann: Nach schon zehnmaliger Gewalteinwirkung gleicher Intensität kommt es zur teilweisen Lähmung der Extremitäten, die mehrere Tage hindurch anhält und dann einen bleibenden Schaden hinterläßt. Das ist dann die Situation im Ring: Der angeschlagene Boxer bekommt „schwere Füße“ — er wirkt also schwerfällig —, er bringt die Hände nicht mehr zur Deckung hoch und setzt sich so noch größerer Gefahr aus.

Haken, Gerade und Schwinger, all das, was den Boxfreund begeistert, bedeuten für den Boxer — gleichgültig ob Amateur oder Profi — Lebensgefahr. Kein Mensch kann nämlich garantieren, daß ein Blutgefäß im Gehirn nicht doch reißt. Zumindest aber bleiben Gedächtnislücken, Desorientierung, Sprachschwierigkeiten und gestörte Bewegungsabläufe als Schäden zurück.

„Grogginess“ ist eben nichts anderes als ein Dämmerzustand. Zwar schlägt der Boxer weiterhin wild um sich, es fehlt aber die Kraft und die Genauigkeit. Boxexperten wissen überdies, daß sich aus diesem Dämmerzustand die „punch drunkness“ — Schlagtrunkenheit — entwickelt: Ein solcher Boxer kann sich meist an die entscheidenden Phasen des Kampfes nicht mehr erinnern, ja, er weiß oft nach Beendigung des Kampfes noch gar nicht, daß bereits der Schlußgong ertönt ist, er weiß auch nicht, ob er gewonnen oder verloren hat.

Aber auch ständige Körpertreffer zermürben den Boxer: Die daraus resultierende Gefäßverengung in den Lungen bringt Atemnot, die Zusammensetzung des Blutes ändert sich innerhalb weniger Minuten und der Herzschlag beschleunigt sich rasch. Die Pupillen erweitern sich im allgemeinen, der Blick wird starr.

Und jeder Boxer kennt die Kainszeichen seines Sports, die ihm den Schaden signalisieren: Zuerst sind es nur regelmäßige Kopfschmerzen und ein unsicherer Gang. Das steigert sich weiter, bis ein Persönlichkeits-abbau eintritt.

Wenn man sich vor Augen hält, daß in einem Boxring in zehn Runden etwa 1000 Schläge ausgeteilt werden, kann man erkennen, welche Gefahren auf den Sportler lauern. Jeder Zuschauer kann überdies bestätigen, daß die Schläge weder selten noch unwirksam treffen.

Boxen ist Angriff und Abwehr. Die Strategie ist: zielsicher, schneller, härter und öfter zu treffen und den Gegner nach Möglichkeit k.o. zu schlagen, ihm also das Bewußtsein zu rauben. Vom edlen „Fechten mit der Faust“ kann also keine Rede sein. Der amerikanische Sportarzt Professor Jokl meint deshalb über das Boxen: „Vom ethischen Standpunkt aus ist das Boxen nicht zu verteidigen. Logisch ist das Argument gegen das Boxen nicht zu erschüttern. Juristisch ist das Boxen nicht länger tragbar. In der Erziehung ist für diesen Sport kein Platz“.

Unter diesen Umständen kann man eigentlich über die geltenden Boxbestimmungen nur lächeln: Zwar ist es verboten, Tiefschläge anzubringen; das Gehirn aber ständig größter Gefahr auszusetzen, ist erlaubt.

Die gute Absicht der 8-Sekunden-Schonfrist nach einem Niederschlag — das Auszählen — ist offensichtlich. Ein Boxer kann sich aber in der Zeit nach einem Niederschlag überhaupt nicht erholen: Ein einzelner K.-o.Schlag wäre für ihn sogar noch leichter zu verdauen als die fortgesetzten hämmernden Trefferserien.

,.Boxen“, meinte einmal einer, „ist die einzige legale Art des Totschlags“.

Und er hat damit recht. Denn dieser Totschlag wird sogar noch staatlich gefördert. Und in der Mehrzahl der Fälle werden damit schwere gesundheitliche Schäden subventioniert. Die Folgen sind sicherlich nicht immer Debilität (was oft vorkommt), aber immerhin bleibende Veränderungen im und am Körper.

Box-Großmaul Cassius Clay hatte also recht: Er ist der Wegbereiter des neuen Weltmeisters Foreman gewesen. Aber ihm und den vielen anderen Boxern geht es um kein Jota besser.

„They never come back“ — „Sie kommen niemals wieder“ — heißt es im Boxsport über geschlagene Weltmeister. Und darin liegt viel Wahrheit, denn sie kommen aus physischen Gründen nicht mehr an die Spitze.

Boxen ist ein Raubbau an der Gesundheit, nach den größten Erfolgen kann es nur mehr abwärts — steil abwärts — gehen. Das gilt für alle, mögen sie nun Frazier, Clay — oder auch nur Orsolics heißen ...

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