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Der Mensch war nie unfreier als heute

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Man weiß um den Fortschritt der Wissenschaft, man schätzt das geistige und technische Bemühen, die es so glänzend ermöglicht haben, das All zu erforschen. Der Mensch aber ist nie weniger frei gewesen als heute. Während Sartre im Nichts nur völlige Verzweiflung feststellt, so durchquert auch jeder Mensch, der seinem Leben einen Sinn zu geben sucht, dieses Nichts. Und wenn er darin auch zu versinken droht - durch seinen Glauben geführt, erreicht er Gott.

Er nimmt es hin, hier auf Erden viel zu verlieren. Er verliert allein das Vergängliche, wenn er auf das Ewige setzt.

„ Wenn er auf das Ewige setzt", sagen Sie. Das ist ein Satz, der nicht wenige Reaktionen seitens jener Schar von jungen Leuten hervorrufen würde, die mir gestern dankten. Sie in unseren Familienkreis eingeladen zu haben, da Sie - ich zitiere - „wirklich nicht wie ein Kardinal aussehen".

Ich bedaure, daß Sie nicht unsere ganze Unterhaltung verfolgt haben. Ich habe in der Tat dieses Wort gebraucht, als ich mich an die jungen Leute wandte, nachdem ich sie ehrlich und frei über alle Fragen, die sie sich über den Sinn des Lebens stellten, sprechen gehört hatte.

Die althergebrachten Antworten, mit denen sich die Älteren begnügten, sind ihnen nicht mehr genug. Sie fechten die Gesellschaft an; wie konnte es aber anders sein, als daß viele mit ihnen einer Meinung sind, wenn sie manche negativen Werte verbišsen bekämpfen, die vielen Erwachsenen genügen? Sie wissen nichts anzufangen mit einem Gott, vor dem man unbedingt Altarkerzen anzünden muß, um zu erlangen, was man wünscht.

Man spricht mit ihnen über die Ehe: sie antworten, daß bis vor wenigen Jahrzehnten - und dies besteht noch in manchen Familien fort - die Liebe des Jungen und des Mädchens ihren Platz erst hinter anderen Überlegungen hatte: gesellschaftliches Milieu, Vermögen, Rang und auch die „Erwartungen“, jenes schreckliche Wort, das eventuelle Erbschaften bezeichnet.

Die Ehe ist für sie eine ernste Sache. Was vor allem für sie zählt, ist die Liebe mit einem großen „L“. Sie geben jedoch zu, daß diese Liebe nur dann dauerhaft sein kann, wenn der Junge und das Mädchen das gleiche geistige Niveau, gemeinsame oder einander ergänzende Neigungen und die gleichen oder ähnliche Ziele haben.

Die jungen Leute lehnen den Krieg ab, verteidigen die Gewaltlosigkeit, die Achtung der menschlichen Person. Viele haben sich der Bewegung Amnesty International angeschlossen. Das Geld interessiert sie nur wenig. Sie verdienen welches, indem sie während ih

rer Ferien die verschiedensten manuellen Arbeiten verrichten, um sich eine bessere Gitarre, eine Stereoanlage oder Platte kaufen zu können.

Manche von ihnen besitzen einen Wagen, ein Surfbrett, Schier und lassen die weniger Begüterten ganz selbstverständlich daran teilhaben. Sie beziehen sich auf Christus, manchmal auch auf Buddha, auf Gandhi. Auch sie müssen schließlich „auf das Ewige setzen“.

Diesen Satz habe ich ihnen sehr wohl eingeschärft, mit meinem „Aussehen eines Kardinals“, das ich aus begreiflichen Gründen nicht abstreifen kann. Warum sollte ein Kardinal im übrigen ihren Infragestellungen gleichgültig gegenüberstehen? Ihrem Suchen nach einem Sinn des Lebens?

Wenn Professor Frankl in unseren Tagen so viele Zuhörer anzieht mit seinem Thema „Der Mensch und seine Existenz“, so deshalb, weil er damit beweist, daß diese Frage der Existenz selbst innewohnt, und er ihre Aktuali- tätsbezogenheit betont.

Das Gefühl, daß die Welt absurd ist, wird zu einem Phänomen, das kein wirtschaftliches System, keine Ideologie zu lösen vermag. Aber man kann eine Verbindung von Ursache und Wirkung zwischen der „existentiellen Leere“ und der Droge, dem Alkohol und der Jugendkriminalität herstellen.

Ich war von dem Ernst dieser jungen Gesichter ergriffen, als ich ihnen sagte, wie sehr ich davon überzeugt sei, daß der Sinn des Lebens und die Religion ganz eng verknüpft sind. Man bestimmt sein Leben durch die Wahl einer Wertskala. In Gott findet der Mensch die höchsten Werte, die einzigen, die wirklich zählen. Es ist ein innerer Drang, sich Werten zuzuwenden, die im Absoluten verankert sind.

Un d hörten diese jungen Leute Ihnen auch zu?

Mehr noch, unsere Unterhaltung entwickelte sich zu einer Diskussion. Fanny, ein intelligentes und empfindsames Mädchen, stürzte sich auf Dostojewskij, der durch das Leid die geistige Tiefe des Menschen zu ergründen versucht, und sie zitierte folgendes:

„Man kann nicht Mensch sein, ohne sich vor etwas zu beugen. Ein Mensch, der sich nicht beugen kann, ist nicht fähig, sich selbst zu ertragen, und einen solchen Menschen gibt es nicht. Jener, der Gott verleugnet, unterwirft sich einem Idol, wenn es auch nur aus Holz oder aus Gold ist, oder er erfindet sich ganz einfach eine Gottheit.“

Dies ist ein Auszug aus dem eben erschienenen Band GLAUBE IST FREIHEIT (Gespräche mit Yvonne Chauffin. Molden. 336 S.. öS 275. ) entstanden aus längeren Gesprächen mit einer französischen Schriftstellerin, zuerst in Paris, nun auch deutsch in Wien erschienen und ein interessanter Zugang zum inneren Wesen eines ungewöhnlichen Zeitgenossen.

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