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Die Wurzel aus Null und anderes

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Dieser Jakov Lind, der bereits durch seinen autobiographischen Erstling auf sich aufmerksam gemacht hat — ist ein kluger, besonnener Fonmiulierer, und, was mehr ist, keiner, dem man „büde Künstler, rede nicht!” anzuraten hätte. Dennoch bleiben diese Legenden selbst bei wiederholtem Lesen merkwürdig inkommensurabel, ohne daß man dies mit einem „um so besser!” im Sinne Goethes quittieren könnte. Nun ja, Legenden haben es schwer, durch Bildkraft ihre symbolische Last vergessen zu machen und auszugleichen. Vielleicht müßte man mehr Krimis gelesen haben, um das Auflösen all der eingebauten Rätsel, die Entlarvung all der Verkleidungen mit der nötigen Leichtigkeit zu bewältigen. So aber glaubt man die eigene Ohnmacht dem Bildner vorwerfen zu müssen, der es einem nicht leichter gemacht hat, das deutlich Geschaute mit Sicherheit zu deuten. Die Kraft dieser Bilder ist dennoch nicht zu leugnen, und man bedauert es, daß sie am Hebelarm gerade dieser Kunst nicht zur Wirkung gelangt, die sie verdiente. Um so mehr, als Lind neben Talent auch Religion hat. Wer wollte es leugnen, daß das heute schon wieder Sympathie erregt? Unser Verfasser ist Moralist. Er meint es ernst mit uns, vielleicht allzu ernst.

Da will, in der Erzählung „Der Ofen”, einer seinen Cousin — den Zeitgenossen? — zum Compagnon für ein geplantes Geschäft in Öfen überreden: Wenn ich es warm und gemütlich haben will, muß ich den anderen das gleiche geben. Das Geld ist unwichtig, die Hauptsache ist, zu handeln, bevor die Saison vorüber ist. Viel Wahres steht da in den Briefen, die darüber hin und her gehen: „Wenn wir reich werden mit unseren Öfen, wirst Du denken, wir verdienen es. Doch ein guter Mensch darf nicht reich sein …” usw. Wäre nur alles so verständlich. Aber zahl- reicher sind philosophische Sätze wie dieser: „Versuche, die Wurzel aus Null zu ziehen und addiere sie zum größten gemeinsamen Nenner, und schau, was herauskommt, danach versuche, Dich selbst mit einer Billion zu multiplizieren, und subtrahiere das Produkt von der Gesamtsumme aller Zahlen. Du wirst Dich wundern, was herauskommt!”

Schade, daß auch die scheinbar mit so großer Natürlichkeit geschriebenen sieben Legenden unter dem philosophischen Ballast nicht zur vollen Entfaltung des künstlerischen Atems gelangen, der sie im Grunde beseelt.

Susanne Thaler

„DER OFEN.” Eine Erzählung und sieben Erzählungen. Von Jakov Lind. Aus dem Englischen von Wolfgang A. Teuschl. Residenz-Verlag, Salzburg. 108 Seiten den, das ihnen offenbar verlorenging …, man muß, glaube ich, diesen Weg zurückgelegt haben, um beten zu können wie Erika Mitterer in ihren Gedichten betet; in Gedichten, die Zwiesprache sind. Zwiesprache mit Gott, um der Menschen willen.

Was für ein Unterschied gegenüber jenen, die begreiflicherweise Sprache, die sie nicht beherrschen, als „gesellschaftlichen” Zwang empfinden und Sprache daher (vergeblich) zu zertrümmern suchen. Erika Mitterer beherrscht Sprache so sehr, daß es ihr gelingt, im Laufe strenger Rhythmen, ja sogar gereimter Zeilen, auch die intellektuellen und volkstümlichen Phrasen vom Tage so zu zitieren, daß sie dem Takt sich fügen und jenen hohlen Ton von sich geben müssen, auf den genau es der Ironie wegen ankommt. Und plötzlich blüht dann und klingt, bruchlos aus Blech und Klischee sich entfaltend, der große, der ungeheure Vers, auf den hin das Gedicht angelegt war, der Vers, der aussagt, was neu zu sagen war und der bei Erika Mitterer so unumstößlich vollkommen ist, daß er im Gedächtnis für immer haftet, später in Überlegungen wiederkehrt, am Ende unbeabsichtigt zitiert, vielleicht auch für den Gebrauch des Alltags variiert wird.

Und weil es in diesen Versen nicht um unverbindliche Brüderlichkeits-

Beteuerungen und um die Anbiederung an geltende Parolen, sondern um eine Zwiesprache mit Gott geht, kann die Dichterin alle Tiefen ausloten und sich derer annehmen, die zu unterst sind und die längst nicht mehr protestschreien (denn das besorgen die Übersättigten): der Sträflinge, die im Himmel keine Nummern mehr sind, der Mörder und Strichjungen, der Verblödeten, Unheilbaren, Unerträglichen, der großen Familie des Kain vor allem. Denn was soll aus dieser Schöpfung werden, gelingt es nicht, den Kain zu entsühnen? \

ENTSÜHNUNG DES KAIN. NEUE GEDICHTE Von Erika Mitterer. Johannes-Verlag, Einsiedeln 1974. 70 Seiten.

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