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Ein Anti-Heimatroman

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Wieder einmal wird man nicht umhin können, sich den Namen eines neuen österreichischen Autors zu merken: Franz Innerhofer, 1944 geboren, stammt aus dem Bundesland Salzburg, das seit K. H. Waggerl keinen nennenswerten Beitrag zur Literatur unserer Zeit geleistet hat. — Doch dieser Erstlingsroman entschädigt für Jahrzehnte der Sterilität.

Er ist schon als Dokument bemerkenswert und müßte, ginge es mit rechten Dingen zu, die brisante Wirkung von „Onkel Toms Hütte” erzielen. Denn wir erfahren, daß in den Hohen Tauern, wenige Schritte abseits vom Wohlstandstourismus, auch heute durchaus noch von Leibeigenschaft die Rede sein kann, und wir haben keinen Anlaß, an der Authentizität der Darstellung zu zweifeln. — Bauern, Ärzte, Lehrer, Fürsorger und Pfarrer wirken aktiv und passiv zusammen an der Peinigung eines jungen Menschen. Das Ungeheuerliche geschieht nicht durch einen oder mehrere Bösewichter, sondern „weil alles so eingerichtet war, daß einer für den andern mehr Haß als Mitgefühl empfand”. Tücke und Feindseligkeit des Menschen gegen den Menschen sind als gegeben vorausgesetzt. Der Mensch ist dem Menschen nur Gegenstand: „… das Ausbleiben eines Menschen fiel gar nicht auf, weil er nur im Zusammenhang mit Handgriffen existierte.” — Die Hölle, durch die Oliver Twist hindurchgehen muß, wirkt vergleichsweise harmlos gegen dieses Inferno im Sozial- und Wohlfahrtsstaat neben dem Paradies der Hochalpenstraßen und Sessellifte.

Größe und Besonderheit der Prosa Franz Innerhofers bestehen darin, daß nicht angeklagt, daß nicht arrangiert und präsentiert wird, daß Wirklichkeit ohne Pathos stattflndet. Franz Innerhofer hat alles selbst erlebt. Er setzt einfach Erinnerungsstücke aneinander, frei von Sentimentalität und Tendenz, kraft seiner epischen Naturbegabung, er will im Leser nichts erzeugen, nichts provozieren; er versucht gar nicht, durch seinen Bericht die Pfarrer, die Fürsorger, die Lehrer, die Behörden zu ändern, weil er weiß, daß er die Menschen nicht ändern kann. Er vergegenwärtigt elf Jahre seiner menschenunwürdigen Vergangenheit bis •zur Erlösung durch den Antritt einer Lehrstelle bei einem Schmied. Er kann dabei auf alle Kunstmittel verzichten; er denkt einfach zurück und bezieht den Leser in das Erlebte ein.

Der Titel „Schöne Tage” mit seiner billigen Ironie wird allerdings weder dem Gegenstand noch dem hohen Rang des Berichts gerecht. Und der Sprache mangelt es an Einheitlichkeit. Ihr relativ simpler, gelegentlich an den Dialekt anklingender, sehr plastischer Duktus aus der Perspektive des Romanhelden ist leider nicht konsequent durchgehalten. Manchmal spricht der heutige Franz Innerhofer, der inzwischen eine Mittelschule absolviert und ein Hochschulstudium begonnen hat („Desillusionierung”, „physische Verfassung”, „erbliche Belastung”), manchmal wird anderseits das „Poetische” etwas forciert (wenn ihm auch auf der Rückfahrt die Ortsnamen wie Weideruten ins Gesicht schlugen”).

Doch die Einwände sind unerheblich. Es ist sehnlich zu hoffen, daß Franz Innerhofer weder durch den Umgang mit Lehrkanzeln noch durch Berührung mit der Sphäre der „Progressiven” verdorben wird. Die zweihundertvierzig Seiten dieses Erstlings wiegen ganze Leihbibliotheken von Heimatliteratur auf. Und wenn dieser Autor hält, was sein Debüt verspricht, kann er uns im Geist und Stil unserer Zeit erzählen, was Ham sun, Ramuz, Giono mit den Mitteln ihrer Zeit erzählt haben, härter, böser, direkter als sie.

SCHÖNE TAGE. Roman. Von Franz Innerhofer. Residenz- Verlag, Salzburg. 240 Seiten, S 175.—.

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