6821562-1973_40_01.jpg
Digital In Arbeit

Eine Gesellschaft im Krieg

Werbung
Werbung
Werbung

Die Ereignisse um die Geiselnahme jüdischer Auswanderer durch zwei obskure Palästinenser, ihre Forderungen und die Nachgiebigkeit der österreichischen Regierung haben ein Weltecho gefunden, wie man es sich in den Amtsräuimen am Ballhausplatz offenbar nicht träumen ließ. Aber mehr als die politischen Folgerungen für Österreich steht die Grundsatzfrage im Raum, ob und wie nun die Welt mit den politischen Kriminellen (vielleicht auch bald mit den nichtpolitischen) nach dieser Entscheidung fertig werden soll.

Bisher hat man vor allem darüber diskutiert, technische Mittel anzuwenden. Defensive Mittel, etwa den Boykott von Ländern, aus denen die Verbrecher kamen oder die sie offiziell oder inoffiziell unterstützen. Oder offensive Waffen, mit denen man Personen unschädlich machen kann, die über Bomben, Handgranaten, Maschinengewehre verfügen oder Flugzeuge besetzt halten.

Abgesehen davon, daß Diskussionen über alle diese Mittel überhaupt noch keine Entschlüsse gezeitigt haben; daß ja ein Jahr nach den Morden von München und der Befreiung der überlebenden Mörder nichts gegen die Länder unternommen worden ist, die diese Untaten begünstigten oder gar unterstützten; daß also die primärsten Regeln internationaler Moral — wenn es überhaupt so etwas gibt — außer acht gelassen worden sind: hier gilt ja doch wohl die Regel, die gültig ist, seit es Verbrechen gibt: nämlich, daß der Angreifer, also der Verbrecher, immer im Vorteil ist. Ob es sich nun um Menschenraub oder Mord, Vergewaltigung oder Geiselnahme handelt: derjenige, der die Initiative ergriffen hat, ist stets im Vorteil.

In unserem speziellen Fall, der Entführung von Geiseln, kommt noch hinzu: ein Abwehrsystem, eine Geheimwaffe müßte erst erfunden werden. Und wenn man sie anwendet, ist sie nicht länger geheim. Sie wird die Erpresser und Geiselnehmer nur dazu bringen, neue Methoden zu ersinnen, also Waffen zu erfinden, die von den neuen Defensiv-Geheim-waffen nicht bekämpft werden? können.

Geiselentführungen zum Zwecke der Erpressung sind keineswegs so neu, wie man allgemein zu glauben scheint. Das gab es schon im Altertum, und nicht wenige Geiseln wurden niedergemacht, obwohl bei Erfüllung gewisser Bedingungen das Gegenteil versprochen worden war. Der Fall des Lindbergh-Babys anfangs der dreißiger Jahre ist ja noch in guter Erinnerung. Damals halfen alle Verhandlungen und finanziellen Aufwendungen nicht das geringste. Aber es ist nicht uninteressant, daß seinerzeit alle führenden Männer der amerikanischen Unterwelt nichts Eiligeres zu tun hatten, als sich von dem Verbrechen zu distanzieren und ihre Hilfe bei seiner Aufdeckung anzubieten. Nicht einmal die mächtigen Gangsterbosse wagten es, der allgemeinen Empörung zu trotzen. Heute ist die öffentliche Meinung in vielen Ländern, die sich zivilisiert nennen, keineswegs mit solchen moralischen Skrupeln behaftet. In vielen Ländern setzt sich ja die extreme Linke für Entführer und Erpresser ein.

Aber überall — und nun zuletzt in Wien —, stellt sich die Öffentlichkeit, stellen sich die Organe der Öffentlichkeit, die Zeitungen, das Fernsehen, die Polizeiorganisationen, die

Regierungen auf den Standpunkt, alles müsse geschehen, um das Leben von Geiseln zu retten. Mit einer solchen auf den ersten Blick selbstverständlichen Forderung kommt man sich ungemein human vor.

Dabei sollten doch nun alle bereits begreifen: daß einer, der einmal Geiseln genommen hat, immer wieder Geiseln nehmen kann, daß man mit dieser Methode, sich selbst und seine politischen Ziele zu schützen, nicht das geringste befürchten muß, solange die Welt für das Leben der Geiseln fürchtet. Oder um es anders zu sagen: hier handelt es sich darum, wie man Amokläufer bekämpft. Die hat man früher dadurch auszuschalten versucht, daß man sie festnahm, verwundete, möglicherweise auch tötete — denn in Freiheit oder lebend stellten sie eine noch größere Gefahr für die Öffentlichkeit dar als bisher.

Erinnern wir uns. Da war zum Beispiel jener Banküberfall vor ein paar Monaten in der Kölner Innenstadt. Die Täter verlangten ein Auto und bekamen es, weil sie Geiseln in der Hand hatten. Später, als die Verbrecher sich nicht mehr verfolgt sahen, wurden die Geiseln entlassen. Die Presse jubelte. Man glaubte, so ließe sich alles lösen. Dabei mußte sich jeder sagen: Wenn die Verbrecher schon aus dem Gewühl der Kölner Innenstadt mit den Geiseln entkommen konnten, was hinderte sie daran, bei nächster Gelegenheit wiederum Geiseln zu nehmen? Und das taten sie auch innerhalb weniger Stunden, und sie hatten wiederum Geiseln in ihrer Gewalt, deren Leben gefährdet war, als die Polizei sich dann doch entschloß, sie zu stellen und in einem Feuergefecht auszuschalten.

Immer wieder ist uns gesagt worden, es sei unmoralisch, Erpressern nachzugeben. Immer wieder haben die Behörden — in allen zivilisierten Ländern — den Erpreßten eingeschärft, die Erpresser anzuzeigen und nicht ihren Forderungen nachzugeben. Und nun sind die gleichen bereit, Erpressungen nachzugeben? Und damit in Wirklichkeit das Leben von weiteren Geiseln aufs Spiel zu setzen? Zu kaltblütig? Unmenschlich?

Die menschliche Gesellschaft befindet sich in einem Krieg. Und verhandelt man in einem Krieg mit Feinden, die zu allem entschlossen sind? Die Welt hat sechs Jahre lang mit Hitler verhandelt. Die Folgen sind bekannt.

Das bedeutet, auf unseren Fall angewandt, daß man mit Geiselnehmern und Erpressern nicht verhandeln darf.

Ja, genau das bedeutet es. Denn wie lange würde es dauern, bis es ein Ende nähme?

Eines ist sicher: selbst Verbrecher oder politische Fanatiker, die bereit sind, ihr eigenes Lebens aufs Spiel zu setzen — und deren gibt es viel weniger, als man uns glauben machen will —, werden aufhören, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und Geiseln in den Tod mitzunehmen, wenn sie erst einmal die Gewißheit haben, daß sie nichts, aber auch nichts damit erreichen. Diese Erkenntnis, das muß zugegeben werden, dürfte ihnen nicht von heute auf morgen kommen, aber doch relativ schnell, wenn die Welt einmal beschlossen hat, unter gar keinen Umständen mit Geiselnehmern und Verbrechern zu verhandeln.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung