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Eines Surrealisten Hymnus auf die Ehe

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Der Surrealismus, in seiner Vielfalt politischer, geistiger und künstlerischer Natur ist eine der letzten Bewegungen, die die Regellosigkeit mit der Regel, die Schule mit der totalen Anarchie, das poetische Bewußtsein mit dem politischen verband, um gleichzeitig in dieser einzigartigen Kembindung zu zerknallen und in alle Welt zu verstrahlen. So kommt es, daß erst jetzt eine Übersetzung von Andre Bretons berühmtem Text .J’amour fou“ vorliegt, der wieder einmal beweist, daß diejenigen, die die Surrealisten als Theoretiker und Dekadents bezeichneten, Unrecht hatten.

Es wird schwer fallen, etwas Ergreifenderes und zugleich Durchdachteres zum Thema Liebe zu finden, es sei denn, man blättere in barocken Bänden nach mystischer Liebeslyrik. Insofern ist Andre Bretons Text durchaus vom Surrealismus als Bewegung zu lösen, ist selbst und an sich eine dichterische Leistung hohen Ranges. Rückblickend zeigt sich diese Bewegung nicht als so ungeheuer protagonistisch, wie es schien, die Surrealisten formulierten in dem berühmt gewordenen „Manifest“, das 1924 erschien nur, was große Dichter des 19. Jahrhunderts wie Baudelaire und Rimbaud längst verwirklicht hatten. So wirkt auch dieser Text in seiner metaphorischen Überbelastung, bildhaften Pracht und Sensibilität, vor allem aber in dem Idealismus, der ihn trägt, allen vergangenen Kulturepochen näher als der heutigen. Hier verherrlicht jemand die Liebe zu einem einzigen Menschen, Angehöriger einer avantgardistischen Splittergruppe im Paris der Zwischenkriegszeit. Es i t bekannt, daß alle späteren avantgardistischen Splittergruppen sich hauptsächlich dem Kampf gegen die sexuelle Repression widmeten und widmen, mit bunten Wimpeln und Fähnchen, die lustig im Fahrtwind der Meinungsindustrie flattern, angeblasen von Äolus, dem großen Pillendreher und

Verkaufsgenie. Aber wer denkt denn noch heute im heroisch geführten Kulturkampf an einen linken Surrealisten. Nein, Bretons „l’amour fou“ wird sicher nirgendwo in Serie gedruckt werden. Die Sprengkraft dieses Textes liegt „30 Jahre danach“ nicht im Sensationellen, sondern im Existentiellen. Vielleicht sollten ihn gerade deshalb nicht nur Literaturprofis, sondern möglichst normale Menschen lesen. Dies wird gerade deshalb leicht sein, weil dieser Text fern von jeder gewollten Artistik, etwas von der Schlichtheit eines Erlebnisses mitteilt, das einen Menschen zu verwandeln vermag, frei nach Güterslohs Ausspruch: „Zwei Dinge machen einen Menschen, der sein Auskommen für gewöhnlich ohne Feder findet zu einem Schreibenden, und sogar zu einem von Talent, die Liebe, wenn sie plötzlich kommt, und der Tod, wenn er etwas zögert.“

Die Surrealisten haben mit ihrer programmatischen Forderung, daß der Tagtraum, der Wachtraum das eigentliche Bereich des Dichters sei, einem verhärteten, kleinkarierten Rationalismus die Abfuhr erteilt. Und doch unterscheidet sich die mit objektiver Schärfe versuchte Wirk- lichkeitsetrfahrung streng von Schwärmerei und Romantizismen. Wirkliichkeit und Vergessen, Träume und Wachen bleiben „kommunizierende Gefäße“, um den Titel eines weiteren Werkes Bretons zu zitieren. Die Empfindung ist etwas, mit dem man niemals fertig wird, der aber eine gewisse Priorität selbst im Denken zufällt, als einer Kraft zu verwandeln, nichts hinter sich verwuchern zu lassen, was auf dem Weg einer Bereitschaft war, oder eines Wartens oder eben einer Liebe. (Ich leugne nicht, daß die Liebe mit dem Leben einen Kampf zu bestehen hat. Ich behaupte aber, daß sie als Sieger daraus hervorgehen soll, und dazu muß sie sich zu einem solchen p’oetischen Bewußt-

sein ihrer selbst erhoben haben, daß alles Feindliche, das sich unausweichlich entgegenstellt, in der Glut ihrer Herrlichkeit hinschmilzt.) In der Kunst sieht Breton vor allem die Dynamis des Prozesses, der Dinge, und alles Wirklichen überhaupt. Die Photos der Originalausgabe, die auch in der deutschen Ausgabe enthalten sind, zeigen immer wieder Gegenstände als in die Tiefe des Bewußtseins dringende, sich in Bedeutung verwandelnde Zeichen, die sie außerhalb des schöpferischen Bewußtseins verlieren.

L’AMOUR FOU von Andre Breton, mit den Photos der Originalausgabe von Brassai, Henri Cartier Bresson and anderen. 103 Seiten, Kösel-Verlag 1971, übersetzt von Friedhelm Kemp.

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