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Einheit und Zerfall - die Doppelbewegung in Europa

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In dem Theaterstück „Glasnost” des „ostdeutschen” Dramatikers Volker Braun heißt es zum Abschluß: „Als die Mauer fällt / seh ich die Mauer in mir”. In Kurt Adels, des Wiener Germanisten, groß angelegtem und die Fakten sorgfältig dokumentierendem Essay „Die Literatur der DDR - Ein Wintermärchen?” kommen auch die beiden universalen geschichtlichen Kräfte zur Geltung: einerseits die Mauern der Abgrenzung einer geschlossenen Gesellschaft, andererseits die „Glasnost”, das Streben nach Durchsichtigkeit, nach Offenheit aller jener Grenzen, welche Länder und Meere, vor allem aber auch unüberprüfbare Vorstellungen in uns innerlich aufrichten; eine Arbeit von großer Aktualität. Aus zwei mach eins, heißt das vorletzte Kapitel des Buches. Aber ist diese Wiedervereinigung Deutschlands nicht bloß eine Annexion durch den wirtschaftlich Stärkeren? Hat sich vielleicht gar ein Keim zu einem neuen „Großdeutschland” gebildet? Oder ist es nicht vielmehrein Konglomerat separatistischer Widerborstigkeit, das sich nun in die Probleme eines weit vorbismarck-schen Deutschlands verheddert?

Die Filmdokumente der Novembertage 1989 verweisen eher darauf, daß mit dem Fall der Mauer die geistigen Spannungsfelder zwischen den Menschen und Provinzen noch viel eindringlicher geworden sind.

Bei der Aufarbeitung von Literatur in all ihren Spielarten als Buch, Zeitschrift und Zeitung verdeutlicht Kurt Adel den Wechselbezug von Einheit und Zerfall. Wie bei einem Muskelantagonismus bringt erst die Zusammenarbeit beider, des Streckers und des Beugers eine fortschreitende Bewegung hervor. Vielleicht hat seit der Reformation und dem Jahr 1789 kein Einheits-Zerfall-Dual so tief in das

Schicksal der Welt gegriffen wie der sich seit 1989 beschleunigende Prozeß. Kurt Adel stellt mit unbestechlicher Objektivität und dem Wissen des Literaturhistorikers, der die Stetigkeit vieler Probleme bis in die Gegenwart hinein verfolgt hat, die Entwicklung des Verhältnisses der BRD- und DDR-Literatur und deren Autoren in all ihren Phasen kommentierend dar.

In dem Kapitel „Das Erbe” werden die Leitlinien des „sozialistischen Realismus” aufgezeigt. Doch wurden auch die Großen (Klopstock, Hölderlin, Goethe) als Erbgut, mehr oder minder deformiert, von der DDR einvernahmt, ist doch der Erbstreit allenthalben Ursache für Dauerkriege in der und um die Kulturlandschaft.

Das Kapitel „Partei und Literatur” gewährt Einblick in die Werkstatt und die Cliquen der Schreibenden, wo es heißt: „Greif zur Feder, Kumpel! -Die sozialistische deutsche Nationalliteratur braucht Dich!” Leider entspricht dieser Aufruf Werner Bräu-nigs weder der Kenntnis der marxistischen Theorie noch der allseits geübten Praxis.

Auslieferung an Betriebsherrn

Seitdem nicht mehr der Federkiel allein, sondern auch riesige Papier-und Druckereimaschinen unerläßlich geworden sind, um den Schreibenden zu ernähren und berühmt zu machen, ist der von den hochtechnisierten Produktionsmitteln völlig abgeschnittene Heimarbeiter der Literatur dem Betriebsherrn gänzlich ausgeliefert, egal ob dieser Herr nun (unfreie) Ideologie oder freier Markt heißt. Zum Überleben bedarf der Schreibende der Partei oder der konsumierenden Masse. Un-eingestandenermaßen empfindet sich die monopolistische Partei als Überich. Die konsumierende Masse jedoch - oft zynischermaßen eingestanden -als Unter-Ich.

Im Augenblick geht es überall im Osten darum, die Zensur des Staates auf die Kontrollkräfte des nicht minderberüchtigten spätbürgerlichen Kapitalismus umzupolen. Dies ist mit einer Umschulung des Sprachgebrauchs verbunden. Hat sich doch herausgestellt, daß sich die Unmenschlichkeiten des parteipolitischen Über-Ichs am liebsten in Adjektiva einschleichen, um eine publizistische Allgegenwart zu erreichen: sozialistisch, demokratisch, fortschrittlich, revolutionär, klassenkämpferisch, dialektisch und so weiter. Mit solcher Schleichhandelsware unterminiert man die Sprache der Vernunft. Klaubt man aus den Sätzen diese schmückenden Beiwörter heraus, so bleiben gleich einem verrosteten Drahtgestell nur Übungssätze einer alten Sprachlehre zurück.

Da sich ja die kommunistische Partei als Ersatzreligion angeboten hat, ihrerseits aber in vielem die Folgeerscheinung eines säkularisierten Christentums ist, heißt das nächste Kapitel „Zwei Bibeln”.

Mag auch östliche Arroganz und Verständnislosigkeit die westliche Literaturauffassung mit dem Witz treffen wollen: „Literatur ist, wenn Proust mitteilt, wie er Tee trinkt”; es kommt doch in dem von Mauern getrennten Deutschland nach dessen internem kalten Krieg zu einer allmählichen Annäherung. Der Osten deckt bei seinen Jugendlichen den Bedarf an DADA. Andererseits öffnet der DDR-Bonus als Enthüllungsfaktorden ostdeutschen Autoren die Frankfurter Verlage. Unverkennbar ist, daß der autoritäre Staat den Ausweg in die Kunst provoziert, welche dort im „Privatgedicht” höchste Qualität erreicht, wie im Anhang mit einer Auswahl bewiesen wird. Auch in den Themen, die hier wie dort behandelt werden, kommt es zu einer Konvergenz der Problematik. Dennoch meint der sehr achtenswerte DDR-Schriftsteller Günter de Bruyn, daß die deutsche Einheit undurchführbar sei. Solche Ansicht ist umso alarmierender, als ja in Deutschland die sprachliche und „völkische” Einheit bereits vorgegeben ist, also jene Einheit, um welche die Zerfallsstaaten als verheißungsvolles Ziel blutig ringen. Trotz des Zerfalls von Vielvölkerstaaten scheint sie also kein allgemeingültiges Rezept für friedliches Zusammenleben.

DIE LITERATUR DER DDR. Ein Wintermärchen? Von Kurt Adel. Wilhelm Braumiiller Verlag, Wien 1992, öS 142,-.

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