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Funktionalität statt Atmosphäre

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Mit der Forderung nach mehr Architekturkritik und mehr Öffentlichkeit bemühte sich vergangene Woche in der Wiener Sezession die Pro-Wien- Enquete „Urbanes Wohnen” um eine Bewußtseinsbildung in Fragen der städtischen „Wohnumwelt”.

In den deutschen Medien wie zum Beispiel in „Die Zeit” oder „Der Spiegel” findet man allwöchentlich intensive Kunst-, Architektur- und Baukritik. In Österreich wird der individuellen Wohngestaltung noch nicht die für die menschliche Natur angemessene Bedeutung zuerkannt: „Der Urinstinkt eines jeden Lebewesens ist darauf ausgerichtet, sich eine Ruhestätte zu schaffen”, formulierte Le Corbusier bereits in den zwanziger Jahren in seinem „Ausblick auf eine Architektur.”

Das heute und eben auch in Wien praktizierte Bauen ist stark geprägt vom Gedanken des Funktionalismus: Komfort und Technik zerstören durch ihr Übermaß das „Atmosphärische”. Atmosphäre aber kann ohne individuelle Gestaltung und ohne Kommunikation mit Künstlern kaum geschaffen werden. Erhard Busek sprach vom „missing link”, vom fehlenden Bindeglied: Die Öffentlichkeit - also ebenso die Verwaltung wie der einzelne - steht vor der Aufgabe, Architekten und Künstler zu integrieren. Nur durch das Engagement der Bevölkerung kann eine Stadt Atmosphäre und Charakter finden, nur durch das gemeinsame Engagement der Architekten und Künstler kann jene Schönheit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommen, die uns den Weg zu einer humanen Architektur weist.

Der Künstler lebt heute vielfach im Zustand der Isolation, manchmal sogar der selbstgewählten. So gaben sich die Künstler im Rahmen der Enquete teils resigniert und Vorwurfsvoll unin- formiert, teils an einer Zusammenarbeit mit Architekten trotzig desinteressiert. Wiederholt kam es zu einer „babylonischen Sprachverwirrung”, als Architekten und Künstler einander der permanenten Widersprüchlichkeit ziehen und etwa ausführlich über das „Recht der Scheußlichkeit als Manifestation des Zeitgeistes” reflektierten.

Doch trotz Methodenstreit blieb die Analyse eindeutig: Die sterile Monotonie der Serienbauweise, die Verwendung von Kunststoffmaterialien an Stelle von natürlichen Baustoffen, wie Stein, Holz, Erde, die fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten im Versorgungsbereich - Gasthäuser, Parkanlagen, aber auch Geschäfte, Kindergärten, Schulen - sowie die „Unstimmigkeit” von Gebäuden und ganzen Stadtvierteln führen zwangsweise zu einer Verkümmerung des Gemütes der Menschen, erzeugen Aggression und Verhaltensstörungen. „Da wird der Mensch zur Nummer”, zitiert die Zeitschrift „Der Spiegel” in ihrer jüngsten Ausgabe den Stuttgarter Bau-Professor Fritz Leonhardt Dauernder Aufenthalt in häßlicher Umgebung macht krank. „Die Schwachen gehen ein, die Starken wehren sich.”

Vielleicht ist all dies in den zurückliegenden Jahren nicht immer mit der notwendigen Schärfe gesehen worden. Nun jedoch mehren sich weltweit die Bemühungen um ein gewachsenes, kreatives Gestalten und Besitzen der Umwelt Dazu ist es sicher erforderlich, mehr Sorgfalt auf die künstlerische Bildung der Menschen zu verwenden, ebenso wie auf die Verfeinerung des Augensinns, die Fähigkeit, sich durch künstlerisches Gestalten zu verwirklichen und somit Identität zu finden. Funktionalität kann und darf in keinem Fall das Streben nach Identität überdecken: „Mein Haus ist praktisch. Dank dafür. Den gleichen Dank wie den Ingenieuren der Eisenbahn und der Telefongesellschaft. Meine Seele habt ihr nicht angerührt” (Le Corbusier).

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