7010018-1988_04_10.jpg
Digital In Arbeit

Gespenstische Normalität

Werbung
Werbung
Werbung

Samstag, 1. Jänner 1938. Ein Titel auf Seite 1 der „Neuen Freien Presse“ kennzeichnet die Stimmung, die uns beim Blättern in den Wiener Zeitungen des Jänner und Februar begleiten wird: „Optimismus trotz alledem.“ Nein, das alte Jahr habe „der Welt die heißersehnte Beruhigung nicht gebracht“. Bruderkrieg in Spanien, Krieg im Fernen Osten, „das Riesenreich der Mitte durch den Vorstoß der Japaner in seinen Tiefen erschüttert“, aber im Kampf um Selbstbehauptung von „überraschender Energie“. Trotzdem werden Tausende österreichische Juden, denen nur noch China Visa gibt, in einem japanisch besetzten Shanghai ankommen. Die Lage spitzt sich zu.

Osterreich hingegen freut sich auf das „Land des Lächelns“, die Erstaufführung der Operette von Franz Lehdr in der Wiener Staatsoper. Für eine große Balletteinlage im zweiten Akt hat der Meister eine neue Musik geschrieben.

Osterreich „hat im letzten Jahr seinen vorgezeichneten Weg unbeirrbar fortgesetzt, die Ruhe im Innern bewahrt, seine Verfassung fester verankert und die Aufbautätigkeit unverdrossen weitergeführt“: Österreichs Zeitungen vermitteln den Eindruck, als wäre die Sorge um die Welt größer gewesen als die ums eigene Land. Hier sollen j a nun sogar die Arbeiter in die Gesellschaft des neuen Staates eingebaut werden.

Die Arbeitslosigkeit läßt sich nicht verschweigen. Allein in Wien, berichtet die „Reichspost“, seien 33.722 Jugendliche arbeitslos, 4.000 würden noch dazukommen.

Einen Monat vor Schuschniggs Reise zu Hitler veranstalten die Legitimisten Kundgebungen in ganz Osterreich. Es kommt zu Störungen durch die Nazis, Raufereien, hunderten Festnahmen. Das Nordlicht, das am 25. Jänner stundenlang den Himmel rot färbte, wurde wesentlich ausführlicher kommentiert. Es war etwas Neues. Von den Aktivitäten der Nationalsozialisten konnte man dies nicht behaupten.

Auch scheint zu den großen Tabus der Redaktionen alles gehört zu haben, was geeignet war, Hitler zu ärgern. Wie in ganz Europa, kommentierte man auch hier die Entlassung des deutschen Feldmarschalls Blomberg und des Generals von Fritsch, keine Rede aber von Konzentrationslagern und Judenverfolgungen.

In den Wiener Zeitungen der letzten Monate vor Hitlers Einmarsch findet man auch so gut wie nichts über jene Vorgänge, von denen später immer wieder die Rede war, wenn gefragt wurde, warum sich Österreich nicht verteidigt habe. Nichts über die Unterminierung des Bundesheeres durch den NS-Soldatenring, nichts über die Wühlarbeit der Nazis in der Exekutive, schon gar nichts über die Verbreitung der nazistischen Ideologie oder die Zahl ihrer Anhänger. Nichts - gerade in jenen Wochen, in denen die Gefahr akut wurde. Österreichs Zeitungen pflegten das Büd eines Landes friedfertiger, loyal hinter ihrer Regierung stehender Patrioten.

Gerührt registriert das „Neue Wiener Abendblatt“ vom 21. Februar die Österreich betreffenden Passagen in Hitlers Reichstagsrede: „Befriedigung über das jüngst Erreichte war unverkennbar, mehr als das, Freude, ja eine gewisse menschliche Bewegtheit... Eindruck auf die österreichisch fühlende Bevölkerung wird auch die Tatsache machen, daß der Reichskanzler seinen ,aufrichtigen Dank“ für das positive Ergebnis des Berchtesgadner Gespräches im besonderen und ausdrücklich an die Person des österreichischen Bundeskanzlers gerichtet hat... Damit erscheinen die bis in die letzten Tage reichenden Vorwürfe gewisser radikalst nationaler Kreise gegen den Bundeskanzler von einer für diese Kreise maßgebenden Stelle in gebührender und sie eines Besseren belehrender Form ,vor dem gesamten deutschen Volke“ richtiggestellt.“ Und das hat jemand geglaubt?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung