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Wie es moglich war

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Der Publizist Dr. Franz Josef S c h ö-n i n g h, ein führender Kämpfer gegen den Nationalsozialismus, beschäftigt sich in einem Leitaufsatz der Münchener „Süddeutschen Zeitung“ mit der Frage, wie es möglich war, daß die Verantwortlichen des Auslandes nicht die ungeheure Gefahr erkannten, die mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus gegeben war, und warum „das Ausland Hitlers Regime bis zum Ausbruch des Krieges sehr geduldig, ja manchmal sogar freundlich toleriert habe“.

Der deutsdie Publizist berichtet dann von einem Gespräch vom Jänner 1938 in Paris mit einem bekannten französischen Philosophen, der im heutigen politischen Leben Frankreichs eine beachtliche Rolle spielt. Dieser beobachtete die Gefährdung dej christlichen Glaubens in Deutsdiland mit großer Sorge und besprach mit mir — berichtet Schöningh — alle Möglidikeiten, wie die christlichen Kräfte Frankreidis den schwerbedrängten Brüdern jenseits des Rheins zu Hilfe kommen könnten. Aber er begriff nicht meine Behauptung,Maß aller heldenhafte gläubige Widerstand am Ende zu schwach sein werde; daß es dagegen unvergleichlich hilfreicher wäre, wenn die ausländischen Diplomaten LIerrn Hitler nicht mehr — wie es kurz zuvor wieder der Fall gewesen war — ihre Glückwünsche zum Jahresbeginn darbräditen oder gar durch ihre Anwesenheit am Nürnberger Parteitag den innerdeutschen Wideistand sdiwachten, während man den Politikern der toleranten Weimarer Republik jeden außenpolitischen Erfolg mißgönnt habe. Als ich dann auf die drohende Kriegsgefahr hinwies, fragte mich dieser in der Tat sehr kluge Mann, ob Hitler vielleidit nicht doch durch die Uber-lassung der Kolonien außenpolitisch befriedigt werden könne. Er erschrak geradezu, als ich ein ironisches Lachen nicht unterdrücken konnte und ihm sagte, „daß es um Kopf und Kragen gehe“, aber schließlich schüttelte er dodi ungläubig sein Haupt.

Einen Monat zuvor hatte ich in München eine Unterredung mit einem amerikanischen Verleger, der ein grundsätzlicher Gegner des Nationalsozialismus war.

Als das Gespräch auf Österreich kam und ich meinte, daß das österreichische Problem alle anderen europäischen in sich schließe, daß der Anschluß der Anfang vom Ende sei, wie dies Wladimir d'O r m e s s o n immer wieder den Franzosen ins Ohr schrie, stieß ich auf fassungsloses Staunen.

Man könne doch ein Land, das von ein paar Millionen Deutschen bewohnt werde, nicht auf die Dauer vom Mutterland getrennt halten. Meine Beschwörung, diese Frage, wie alle europäischen, nicht als eine Frage von statistisch erfaßbaren Quantitäten zu betrachten, sondern zunächst und vor allem als Frage politischer Qualität und sehr tiefer, komplizierter geschichtlicher Zusammenhänge, stieß bei dem an sich aufgeschlossenen, weitsichtigen Amerikaner auf das wohlwollende Lächeln des Weltmanns über den europäischen Romantiker. Daß der Anschluß kommen werde, hielt er für unvermeidbar und im Grunde für berechtigt.

Er wollte nicht einsehen, daß der Anschluß 1918 einen ganz anderen Sinn gehabt hätte; daß er dagegen 1938 nur der erste Zug im großen imperialistischem Schachspiel Hitlers sein würde.

Schon im Dezember 1945 publizierte das schweizerische unabhängige Organ „D i e Tat“ einen Aufsatz, der sich eben-falb mit der seltsamen Erscheinung befaßt, daß Hitler tot den Augen der ganzen Welt ungehindert aufrüsten nrtd seine imperialistische Außenpolitik vorbereiten konnte. Da heißt es:

Viele meiner Freunde wiesen seit 1934 in ihren Kommentaren immer wieder darauf hin, daß die Einfuhren aller rüstungswichtigen Waren, wie Benzin, Metalle, Bauxit usw., unendlich stiegen, daß ihretwegen die Importe lebenswichtiger Verbrauchsgüter, wie Kaffee, Tee, Wolle, gedrosselt wurden, und daß Hitler wegen Fütterung seiner Kriegsmaschine im Rahmen sein Vierjahresplanes die Autarkie etablierte. Deutschland war außerstande, seine Kriegsvorbereitungen zu verhüllen, die von seinen Verhandlungspartnern veröffentlichten Handelsstatistiken verrieten alle Geheimnisse.“

„Deutschland leistete an Reparationen insgesamt 21 Milliarden und bezahlte 30 Milliarden Goldmark von empfangenen Auslandsgeldern nidit zurück. Die Gläubiger Deutschlands, in erster Reihe die Alliierten, haben daher die deutsdie Aufrüstung mit nicht weniger als neun Milliarden Goldmark subventioniere Es ist in diesem Zusammenhang interessant, den Mann vorzustellen, der vor zwei Jahren, noch während des wütendsten Ringens, diese so aufschlußreichen Ziffern der Vergangenheit entriß: Es war niemand anderer als der kluge englische Radiokommentator Lindlay Fräse r.“

Das Problem, wie Europa in die furchtbare Katastrophe des zweiten Weltkrieges hineingeraten 'konnte, muß doch wohl immer auch aus dieser Perspektive betrachtet werden.

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