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Entscheidende Frage

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Als das kurze, traurige Leben des Tragikers Graßbe zu Ende ging, hielten es Freunde doch für wichtig, ihm einen Geistlichen zu senden. Grabbe wollte sterben wie ep gelebt hatte; aus seinen Fieberphantasien habe er, wie berichtet wird, den Pastor „abgeschreckt" mit der Frage, ob auch die Tiere in den Himmel kommen. Sonderbar! Warum ließ sich der Geistliche wohl abschrecken? Sah er in der Frage nur eine der verletzenden Sonderbarkeiten, mit denen der Dichter seine Vaterstadt Detmold aufzuregen liebte? Wie, wenn er ein Wort gefunden hätte vom Seufzen der Kreatur, vom Harren der Schöpfung, dem neuen Himmel und der neuen Erde? Ob der Sterbende nicht auf gehorcht hätte? Ob er nicht vielleicht zugänglich geworden wäre für andere Worte des Pastors, für sein Heil? Ist es so unmöglich, daß — nach menschlichem Ermessen — die Abwehr dieser Frage über das Seelengeschick des Dichters entschieden hat? Denn die Frage, die er stellte, war eben die Frage eines Dichters, der, wie Paul Claudel gesagt hat, „an der Stelle alles dessen spricht, was um ihn herum schweigt". Gewiß hat die Theologie die Frage des Dichters, so weit das nach der Offenbarung möglich ist, beantwortet. Wenn „der auferstandene Leib Christi eine Verheißung ist für jeden Stein, für jede Blume, für jedes Molekül und Atom" (Christus und der Kosmos. Von Eugen Walter. Schwaben- Verlag, Stuttgart), so haben auch die Tier? Anteil an der Herrlichkeit des Verklärten. Aber fangen wir nicht erst an mit dem Vollzug unserer Beziehung und Verantwortung im Ganzen der Schöpfung, die der Herr gestiftet hat? Welche Möglichkeiten der Verantwortung, der Liebe sind gegeben! Und ob man nicht einmal das Christentum wird messen können am Verhältnis des Christen zur Kreatur? Ist es nicht erschütternd, daß es etwa in den südlichen Ländern nach fast 2000 Jahren christlicher Predigt nicht gelungen ist, die Wahrheit vom Harren der Schöpfung, vom Seufzen der Kreatur in den Menschen zu erwecken? Wenn aber nur diese eine Wahrheit verstanden würde — müßte sich dann nicht eine unübersehbare Veränderung im Leben der Menschen, der Völker vollziehen? Die Frage des armen Grabbe nach dem Himmel der Tiere ist noch immer offen, auch wenn sie von Gelehrten und Heiligen hinreichend beantwortet sein sollte. Denn die volle Antwort wäre erst gegeben, wenn wir der Verantwortung für die durch den Menschen gefallene, in unsägliches Leid verstrickte Kreatur zu genügen versuchten in unserem persönlichen Lėben. Auch davon hängt das Heil ab — unser aller Heil.

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