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Herz und Nieren

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Spätestens in einem Jahr, im April 1974, sind die Wiener Gemeinderats- und Landtagswahlen fällig. Vieles in der momentanen politischen Situation der Bundeshauptstadt spricht dafür, daß dieser Wahltermin von der Mehrheitspartei, der Wiener SPÖ, vorverlegt wird. Etwa auf Herbst, dieses Jahres. So nimmt es nicht wunder, daß bereits jetzt ein gewisser Vorwahlkampf begonnen hat. Die Rathaussozialisten plakatieren jedem Lokalpatrioten ans Herz — manchen freilich an die Nieren — gehend: „Wien unsere Stadt — SPÖ unsere Partei.“ Die Wiener ÖVP hingegen diagnostiziert Schlimmes: „Diese Stadt ist krank.“

Die schwarzen Medizinmänner glauben sich jedoch im Besitz der Therapie. Bereits im Herbst des vergangenen Jahres begannen einige hundert Experten, „das Unbehagen der Wiener“ auszuloten und verfaßten einen „Negativkatalog“. Diese Sammlung kommunaler Versäumnisse, Fehlplanungen und Mangelhaftigkeiten war Voraussetzung für den nunmehr kreierten „Positivkatalog“. Unter der Gesamtleitung von Univ.-Prof. Hans Tuppy entwarfen 550 Experten das „Realkonzept gesundes Wien“. Diese „Expertenvorschläge für eine wohnliche und lebendige Hauptstadt“ werden nun in homöopathischen Dosen der Öffentlichkeit präsentiert. Zielgruppe sind vor allem jene 340.000 Bürger Wiens, die bei der letzten Gemeinderatswahl den Gang zum Stimmzettel verweigerten.

Als erste Initiativgruppe schloß der Arbeitskreis „wohnlich planen“ ein, .Leitbild für Wien“ ab und präsentierte Vorschläge für die künftige Entwicklung Wiens. Unter der Leitung des Soziologen Universitätprofessor Erich Bodzenta entwarf diese Gruppe nicht nur ein Leitbild für die räumliche Stadtentwicklung, Modelle für die Lösung der City-Probleme und ein Wohnungskonzept, sondern modellierte auch Lösungsvorschläge für die Stadterneuerung und die Assanierung.

• Leitbild für die räumliche Stadtentwicklung: Um für die Bewohner einen gesunden, wohlfunktionierenden und ästhetisch ansprechenden Lebensraum zu gestalten, soll rund um die Stadt ein „Grüngürtel“ von drei bis fünf Kilometer Tiefe freigehalten werden, die Stadterweiterung auf Flächen, die schon als Bauland gewidmet sind, eingeschränkt bleiben, wertvolle alte Bausubstanzen geschützt und durch Förderungsmaßnahmen funktionsfähig erhalten werden; zur Auflockerung des städtischen Beziehungsgeflechtes mögen eine größere Zahl von Teilzentren gefördert bzw. geplant werden.

•Zur Lösung der City-Probleme schlägt Bodzentas Initiativgruppe eine Summe von städtebaulichen und rechtlichen Maßnahmen vor, die der Erhaltung der „Multifunktiona-lität der City“ dienen und die Intensivierung des innerstädtischen Lebens zum Ziel haben.

•Das Wohnungskonzept definiert die „Ziele der Wohnungspolitik“: „Grundsätzlich volle wirtschaftliche Berechnung der Wohnungskosten, aber unterschiedliche Förderung der Wohnungswerber (nach dem ProKopf-Einkommen). Bei überwiegend öffentlich geförderten Wohnungen hat die Vergabe ausschließlich nach Bedürftigkeit zu erfolgen.“ Zur Erfüllung dieser Ziele ist es notwendig, „Mindestqualität von Bauplätzen für Wohnungen“ festzulegen, die Wohngebiete vom Verkehr soweit als möglich freizuhalten, bei der Besiedlung neuer Wohngebiete die Bevölkerung altersmäßig zu mischen („Verhinderung sozialer Monokultu ren) und die gesamte Wohnbauwirtschaft tiefgreifend zu rationalisieren. „Das Wohnbaukonzept wäre einer dauernden, unabhängigen Effektivitätskontrolle zu unterwerfen. Jährlich hat die Stadt einen .Wohnbaubericht' zu veröffentlichen.“ • „Gebiete mit städtebaulichen Mängeln, schlechter Struktur, zu dichter Verbauung, fehlenden sanitären Einrichtungen, in nicht erhaltungswürdigem Bauzustand, deren Wohnungen und Einrichtungen nicht mehr mit sinnvollem Kostenaufwand zu verbessern sind, sollen Gegenstand der Stadterneuerung sein.“ Wobei diese Erneuerung entweder durch Sanierung oder durch völlige Neubebauung zu geschehen hat. „Soll eine Stadterneuerung durch Wahrung der freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung ohne Schaffung neuer Privilegierter gelingen, müssen alle Maßnahmen durch ein widerspruchsfreies System rechtlicher Satzungen im Rahmen einer neuen Planungs- und Bauordnung, eines neuen Besitz-und Benutzungsrechtes und eines daraufhin angepaßten Stadterneuerungsgesetzes vorbereitet werden.“

Insgesamt erarbeitete die Initiativgruppe „wohnlich planen“ ein Modell für ein modernes Wien, das die Zustandschilderung Professor Brodzentas frontal angreift: „Totalverplanung ohne Offenheit für zukünftige Entwicklungen.“

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