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Hysterie um Nazis
Die Behandlung der Affäre durch einen Teil der Presse läßt die Befürchtung aufkommen, daß die Öffentlichkeit nicht allzu bald den Weg zu jener Selbstbesinnung finden wird, die für spirituelle Demokratisierungsprozesse unerläßlich wäre.
Die Behandlung der Affäre durch einen Teil der Presse läßt die Befürchtung aufkommen, daß die Öffentlichkeit nicht allzu bald den Weg zu jener Selbstbesinnung finden wird, die für spirituelle Demokratisierungsprozesse unerläßlich wäre.
Von Anfang an versuchte die vorwiegend aus früheren Parteigenossen bestehende und auf den Geist des obskursten Nationalismus eingeschworene Politboulevardpresse mit der Assistenz des Rundfunks das Ereignis in „gehöriger Garnierung" aufzutischen. Nachdem sich die eiligst gebrachten Meldungen über sensationelle Waffenfunde der Reihe nach als Enten erwiesen hatten, fand es der Rundfunk mit dem Wesen eines Rechtsstaates unvereinbar, daß sich die Neonazis auf freiem Fuß bewegen können, obwohl sie seit Jahren in intensivem Kontakt mit neofaschistischen Verbrechern in Österreich gestanden hätten. Die Tatsache, daß Verbrechen in einem Rechtsstaat erst vor Gericht einwandfrei nachgewiesen werden muß, dürfte freilich für jene Meinungsmacher kaum von Bedeutung sein, für die jahrelang die Linie der Partei sowohl in rechtlichen als auch in moralischen Fragen entscheidend war, vorausgesetzt, daß man in diesem Fall das Wort „moralisch" überhaupt noch erwähnen kann. Nun sollen Polizei und Staatsanwaltschaft, die sich für ein rechtmäßiges Verfahren einsetzen, in den Verruf gebracht werden, Partei für die Neonazis ergriffen zu haben. „Für Nazis gibt es bei uns weder Gnade noch Verjährung!", meinte neulich der Mitarbeiter einer Budapester Zeitung bei einer Podiumsdiskussion, und fügte gleich etwas hinzu, was die Begriffsverwirrung dieser Art wohl am deutlichsten zu illustrieren vermag: „Die meisten Polizisten sind doch Kommunisten, die fühlen sich den Nazis ja nahe!"
Ohne die Bedeutung einer aus sieben Personen bestehenden NS-Grup-pe zu überbewerten, schadet es nicht, einen Blick auf die Zeitgeschichte zu werfen. Als in den Kriegsjahren nicht zuletzt unter dem Druck der deutschen Nationalsozialisten über 800.000 Juden das Recht Ungarn zu sein - über die Hälfte wurde in ausländischen Vernichtungslagern ermordet - auch mit Gesetzen abgesprochen wurde -, waren bereits fast drei Viertel der ungarischen Arbeiterschaft von der einheimischen NS-Ideologie verseucht. Diese Tatsache wurde während der kommunistischen Herrschaft stets verschwiegen - mit gutem Grund. Die Arbeiterklasse durfte ja als Basis und Träger der großen Gesellschaft der Zukunft nicht bei den Judenmorden assistiert haben. Unzählige Überlebende der Verfolgung traten damals in die Partei und auch in deren politische Polizei ein und begingen zusammen mit früheren Nazis und anderen frischgebackenen Kommunisten Taten, zu denen sie sich auch heute noch bekennen, indem sie sich mit der historischen Notwendigkeit, mit der Diktatur des Proletariats oder halt mit der Ausrede rechtfertigen, lediglich Befehle ausgeführt zu haben. Ein Verfahren droht ihnen nicht, dafür bürgen wohl die Gesetze des Rechtsstaates.
Selbst der Alltagsbürger hat sich damit schon abgefunden, keine Fragen zu stellen, wenn er aus der Feder eines zum ungezügelten ungarischen Nationalisten gewordenen einstigen Genossen, der zur Zeit der Parteidiktatur mit ehemaligen Nazis bereitwillig zusammengearbeitet hat, Interpretationen über den Begriff des Rechtsstaates liest. Die Vergangenheit liegt halt zu nahe, um bewältigt zu werden.
Zum Glück haben es die Christlichnationalen aber auch einige sozialistische Organe vermieden, hysterisch auf die Hysterie zu reagieren. Doch bei ihrer Besonnenheit haben sie auch die Chance versäumt, auf die Notwendigkeit jener Bewußtwerdung aufmerksam zu machen, die unerläßlich ist, um Gefahren zu begegnen, die sowohl der Existenz einerGruppe von Neonazis als auch der Manipulation mit der Zeitgeschichte durch manche Organe und Medien entspringen.
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