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Kein Selbstmord

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Als Gesetz jüngerer deutscher Geschichte gilt die Erfahrung, daß jede Ostfrage zugleich eine Westfrage aufwirft ^— und umgekehrt. Bismarcks Drei-Kaiser-Allianz erschütterte die europäischen Westmächte ebenso wie später Wilhelms II. zeitweiliges Kokettieren mit einer deutsch-britischen Allianz das zaristische Rußland. Rathenaus „Rapallo“ befremdete im Westen wie Stresemanns „Locarno“ im Osten. Es läßt sich mit Vorbehalt sagen, daß wir in diesen Tagen eine neue Variante solcher Erfahrung geboten bekommen. Die deutsche Bundesregierung, die mit westlicher Absicherung ihre Ostpolitik bis in die fließende Grenze der Ubereinstimmung mit dem sowjetischen Europakonzept vorgetrieben hat, dürfte vielleicht überrascht sein über die Deutlichkeit der Bekundung aus Washington, die Vereinigten Staaten würden an ihren Rechten aus den Vier-Mächte-Vereinbarungen über Berlin und Deutschland festhalten.

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Als Gesetz jüngerer deutscher Geschichte gilt die Erfahrung, daß jede Ostfrage zugleich eine Westfrage aufwirft ^— und umgekehrt. Bismarcks Drei-Kaiser-Allianz erschütterte die europäischen Westmächte ebenso wie später Wilhelms II. zeitweiliges Kokettieren mit einer deutsch-britischen Allianz das zaristische Rußland. Rathenaus „Rapallo“ befremdete im Westen wie Stresemanns „Locarno“ im Osten. Es läßt sich mit Vorbehalt sagen, daß wir in diesen Tagen eine neue Variante solcher Erfahrung geboten bekommen. Die deutsche Bundesregierung, die mit westlicher Absicherung ihre Ostpolitik bis in die fließende Grenze der Ubereinstimmung mit dem sowjetischen Europakonzept vorgetrieben hat, dürfte vielleicht überrascht sein über die Deutlichkeit der Bekundung aus Washington, die Vereinigten Staaten würden an ihren Rechten aus den Vier-Mächte-Vereinbarungen über Berlin und Deutschland festhalten.

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Nun könnte man zwar meinen, dieses Signal vom Potomac biete in der Sache nichts Neues. Man weiß, daß an einer Vier-Mächte-Erklärung gebastelt wird, die für den Fall, daß der Grundvertrag zustande kommt und hernach beide deutschen Staaten in die UN aufgenommen werden, den Begriff der einen Nation unter der höchsten Autorität der vier Siegermächte des zweiten Weltkriegs zum Ausdruck bringen soll. Die amerikanischen Politiker verbinden damit aber offenkundig weitergehende Überlegungen.

Washington will, wie immer die deutschen Verhandlungspartner am Schluß ihrer zweiseitigen Verhandlungen verbleiben, die eigene Verantwortung und Präsenz in der deutschen Frage an sich — wie sie sich seit 1945 stellt — der zweiten Hauptweltmacht gegenüber betonen. Ein Diplomat Amerikas hat das so ausgedrückt: Es dürfe nicht dahin kommen, daß nach einer UN-Aufnahme der beiden deutschen Staaten in New York City ein Professor aufs Podium steigen könne, um zu erklären, die Vereinigten Staaten verletzten die „Souveränität der DDR“, weil sie Truppentransporte über die Autobahn nach Berlin schickten.

Man wird abwarten müssen, welche Direktiven James Sutterlin, der Leiter der Deutschlandabteilung im amerikanischen Außenministerium, bei seinem Besuch in der Bundeshauptstadt Ende Oktober dazu mitbringen wird. Ersichtlich ist schon jetzt — vor dem Europagipfel in Paris und der im Vorbereitungsstadium befindlichen Gesamteuropäi-

schen Sicherheitskonferenz — ein für die Bundesrepublik wesentliches Faktum: Von einem „Rückzug“ der Vereinigten Staaten aus der Bundesrepublik oder auch nur von der Aufgabe einzelner amerikanischer Rechte auf deutschem Boden kann keine Rede sein.

Amerika hat zwar nach der Niederlage des Hitler-Reiches nichts daran geändert, daß die gesamtdeutsche Problematik — vom Ende der irrig als „Abkommen“ bezeichneten Potsdamer Konferenz des späten Juli und frühen August 1945 an — in die schon damals gegebene Auseinandersetzung der beiden sich politisch und gesellschaftlich befehdenden Systeme verstrickt wurde. Es war zweifellos eine deutsche Hoffnung, aus dem Text des Potsdamer Kommuniques nicht zu rechtfertigende Erwartungen auf einen künftigen „Friedensvertrag“ und auf den Fortbestand der Nation als politischer Einheit abzuleiten. Die Tatsache der faktischen Zerreißung Deutschlands in Besatzungszonen ließ schon damals die Etablierung zweier Staaten unter dem Einfluß der Supermächte erkennen.

Welche Änderungen der militärischen Dispositionen in Europa Washington auch vornehmen mag, es darf ausgeschlossen werden, daß eine Viermächteerklärung zum deutschen Grundvertrag an der gegebenen Präsenz und Einflußnahme Amerikas in der Bundesrepublik und West-Berlin etwas ändert. Kein Präsident der Vereinigten Staaten nach dem zweiten Weltkrieg hat einer Abwendung von Europa oder auch nur einem

Rückzag in Etappen aus Deutschland das Wort geredet. Die besonderen Beziehungen Washingtons vor allem zu Großbritannien und in etwa auch zu Frankreich — die trotz aller Dementis selbstverständlich weiter existieren — würden einen solchen Kurs auch als selbstmörderisch für die Vereinigten Staaten erscheinen lassen.

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