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„Mein Bauch gehört mir“

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Millionen wissen es: „Wir haben abgetrieben — 374 Frauen haben gegen das Gesetz verstoßen.“ Mit diesem Satz, hingestellt in eine hand- schaft von Emotionen, Tabus, Intimsphären und fundamentalen Vorbehalten, soll einer Gesellschaft ihre Wehrlosigkeit demonstriert werden. Die Bombe muß zünden. Damit nistet der Boulevardjournalismus, der seine Selbstabwertung konsequent betreibt, sie täglich neu zu beweisen müssen glaubt, im Schnittpunkt von Moral und Sozialethik, Medizin und Theologie, im Spannungsfeld von menschlichen Tragödien und generell abstrakten Normen. Ein — das sei ohne Wertung festgehalten — zutiefst menschliches, diffiziles Problem wird verniedlicht: „Mein Bauch gehört mir“ oder „Lust ohne Last“. Prominente bezichtigen sich trotzig und stolz und ungemein progressiv einer kriminellen Handlung — denn noch, bitte schön, steht Abtreibung unter Sanktion: § 144 in Österreich, § 218 in Deutschland — und äugen gierig auf die Reaktionen der Staatsanwälte.

Die Tendenz ist klar: Popularität, besser Bekanntheit — wie imrper sie errungen werde, sie wird in „Gesellschaftskritik“ umgemünzt. Das geht bis zu dem Phänomen, daß durch die Verwirklichung eines Deliktes Aufsehen erregt wird, und die Story xheSer’- Handlung: als :Ptätest ‘dinge' färbt, gegen ein Exklusivhonorar verkauft ‘wird: Als kick iünnsf in

Anspruch auf Systemkritik und -reformierung wird zu einer Funktion der Auflagenhöhe.

Das Problem der Anpassung von Gesetzen an den jeweiligen Entwicklungsstand der Gesellschaft, die Verminderung des Auseinanderklaffens von Norm und Realität wird zum Anliegen eines sich progressiv gebärdenden Boulevard. Die oft zitierte „normative Kraft des Faktischen“ soll erzwungen werden — sei es auch mit dem Geständnis: „Ich habe abgetrieben.“

Die Ex-Sissi und ihre 373 Mitstreiterinnen beeindrucken mit dem brennenden Wunsch, „Frau im eigenen Bauch zu sein“, das deutsche (und österreichische) Lieschen Müller. Wie überhaupt für Lieschen Müller so viele Moden (vor allem politische), so lange vom Boulevardblatt zur Illustrierten und von dieser zum Fernsehen gereicht werden, bis daraus eine Kampagne gewachsen ist — und bis auch der Dümmste im Dorf eine in Redaktionen gebaute Problematik als seine eigene zu erkennen glaubt. Egal, ob Pornographie oder Haschisch, „Oben-ohne-Mode“ oder jetzt Abtreibung: regelmäßig werden Scheinprobleme einer Schickeria, die sich in Libertinage übt, zu Schicksalsfragen umstilisiert.

Warum soll nicht jeder glauben, däß’ünminschlidhe Paragraphen und irrationale Zwänge uns hindern, „wir selbst~zu sein"? Warum~ sötten wir

Zürich der Besitzer eines Massagesalons mit Hilfe einer Geisel die in einem Leben voll Frustrationen aufgestauten Aggressionen von der Seele drohte, konnte er seine Memoiren günstig verkaufen — und die hart errungene Popularität mit Sekt und der Zürcher Polizei feiern.

Derartige Beispiele für die vom Boulevard getragene Umwertung fixer Relationen gibt es zu viele. Nahtlos verbindet sich ein Sensationsjournalismus mit Randtypen zur Manipulation einer desorientierten, der eigenen Stellungnahme längst entwöhnten Gesellschaft. Der dann nicht auf die Idee kommen, den Akt der Befreiung zu setzen? Nicht eingeengt von Gesetzen, nicht bedroht von unmodernen Sanktionen?

Linker Kommerz stürmt gegen ein System von Verhaltensvorschriften und bedient sich dabei der vermeintlichen oder tatsächlichen Prominenz von Nullitäten. Der Boulevardjournalismus als Vehikel der erhofften Wertfreiheit: Auf der Strecke bleiben guter Geschmack, Verantwortungsbewußtsein — und im speziellen Fall jene Ungeborenen, denen halt noch keine Illustrierten verkauft werden können …

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